Das Problem der meisten Journalisten, die heute den Abbruch des InstA kommentieren, ist, dass sie aus dem hohlen Bauch heraus schreiben.
Aus dem hohlen Bauch heraus schreiben müssen, weil es ihnen verständlicherweise an einschlägigen Detailkenntnissen mangelt.
Wer bitte hat schon die über 120 bilateralen Verträge mit der EU gelesen.
Nicht mal der Bundesrat.
Man kann das Problem der europapolitischen Diskussion der Mutmassungen am Beispiel von Arthur Rutishauser, dem Chef der TA-Medien, veranschaulichen.
In seinem Kommentar „Der richtige Entscheid“ schreibt er:
Dass sie [die EU] nach dem Verhandlungsende ein Dokument ins Netz stellt, in dem sie droht, Tomatenlieferungen aus Drittländern in die Schweiz zu unterbinden, ist ein Hohn angesichts der ethischen und moralischen Werte, die sie selber vertritt.
Mit Verlaub, das ist Gefühlsduselei aus dem hohlen Bauch.
Faktisch geht es um Importe von Waren „mit hohem phytosanitären Risiko“.
Für die Einfuhr von Pflanzenmaterial aus Drittländern gelten ab dem 1.1.2020 strengere Vorschriften – auch im Reiseverkehr. Der Import von lebendem Pflanzenmaterial wie beispielsweise Pflanzen, Früchte, Gemüse, Schnittblumen, Samen etc. ist aus Drittländern grundsätzlich nur noch mit einem Pflanzengesundheitszeugnis möglich.
Das gilt in der Schweiz, das ist schweizerisches Recht. (Bundesamt für Landwirtschaft: Einfuhrbestimmungen für pflanzliche Waren ab 2020 (Infoblatt)
Das längerfristige Problem für die Schweiz ist hingegen hier auszumachen: „Die EU und die Schweiz bilden einen gemeinsamen phytosanitären Raum.“
Was es bedeutet, wenn ein Land den „gemeinsamen phytosanitären Raum“ verlässt, verlassen muss, zeigt das britische Beispiel.
Weil Nordirland nach dem Brexit, anders als UK, noch immer phytosanitarisch zur EU gehört, können ohne Pflanzengesundheitszeugnis keine Tomaten oder anderes Gemüse aus Grossbritannien (dem eigenen Land notabene) mehr eingeführt werden.
Mit anderen Worten: Wenn aus Grossbritannien Lammkotletts oder Blue Stilton oder von mir aus auch Tomaten in die Schweiz importiert werden, ob zu Lande oder per Frachtflugzeug, muss der Fracht seit dem 1. Januar ein sanitarisches Dokument beiliegen.
Grossbritannien ist jetzt auch für die Schweiz ein Drittland.
Was sich unter Umständen ändern könnte und was das EU-Dokument sagt: Die Schweiz könnte beim Landtransport der Ware für die Einfuhrkontrolle der französischen Inspektoren in Calais zur Kasse gebeten werden.
Heute spart sich die Schweiz den Aufwand an der Grenze in Basel, weil die Arbeit der französischen Kollegen in Calais als gleichwertig anerkannt werden.
Die Schweiz ist derzeit noch ein Mitgliedsland der EU. Phytosanitarisch.
Baresi meint
Ich habe keinen einzigen Satz der 120 Verträge gelesen (bin aber auch kein Journalist). Verstehe ich Ihre Ausführungen richtig, im Fall der Tomaten etc. werden vielleicht (sicher?) die Administration aufwendiger und damit der Endpreis höher? Könnte man diese Aussage generalisieren? Ohne InstA verliert die Schweiz vor allem Zeit (Admin) und Geld (Kosten für die Admin). Oder werden auch Dinge unmöglich, die jetzt noch möglich sind?
M.M. meint
Wie dargelegt, gelten für die Schweiz seit letztem Jahr neue Einfuhrvorschriften für Drittländer.
Neu ist am 1. Januar jetzt Grossbritannien hinzugekommen. Export von Stilton lohnt sich für die britischen Produzenten kaum mehr: Cheese maker upset at £180 post-Brexit Stilton export cost to EU
EU kann man durch Switzerland ersetzen, weil wir ja dieselben Vorschriften eingeführt haben.
Doch Tomaten kann man vergessen. Sind unwichtig.
Viel wichtiger ist beispielsweise, was passiert, wenn die EU die Datenschutzregeln weiterentwickelt. Dann kann irgendwann der Punkt kommen, wo das Schweizer Datenschutzgesetz nicht mehr als gleichwertig mit der europäischen Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) anerkannt wird.
Ein Drittland bei den Tomaten zu sein, ist ein Klacks gegenüber dem Drittlandstatus beim Datenverkehr.
Für die Briten gilt seit Januar eine sechsmonatige Übergangsfrist. Ende Juni wird die EU entscheiden, ob UK den Status der Schweiz, Argentiniens und Japans zugesprochen bekommt. Das ist keineswegs sicher.
Karl Linder meint
Wenn das so stimmt, dann wäre das ein Boost für den Flugfrachtverkehr, weil Blue Stilton oder schottische Lammkoteletts dann per Flugfracht von LON-BSL gelangen würden/könnten, super ökologisch wär das nicht. Eher wie Luftbrücke Berlin anno 1962. Lass uns auf Vernunft hoffen, und Abbruch von Verhandlungen heisst ja nicht, dass man nicht doch wieder mit verhandeln beginnt (das zeigen ja Konflikte in aller Welt exemplarisch).
M.M. meint
Ob zu Land oder per Luftfracht, da ändert sich gar nichts. Sanitarische Zeugnisse für Importe aus Drittstaaten sind in der Schweiz zwingend.
Wenn schon ist der Landweg heute billiger, weil man sich die Personalkosten in Kloten sparen kann.
gotte meint
wer will denn stilton oder tomaten? wir haben hirsebrei und hellebarden.
Franz meint
Nur in die EU damit ich billige Tomaten bekomm??
M.M. meint
Danke für den Kommentar. Weil er aufzeigt, wo das Problem liegt: Man weiss einfach nicht, wies läuft.
75 Prozent des in die Schweiz importierten Gemüses stammt aus der EU. Bei den Produktionsländern stehen Spanien, Italien, Frankreich und die Niederlanden an oberster Stelle.
Weil die Schweiz Mitglied der Phyto-EU ist, können wir weiterhin billige Tomaten aus Holland und Spanien importieren. Wobei wenn ich an den Tomatenpreis in Italien denke, dann kann von billig bei uns keine Rede sein.
Wir schützen eben nicht nur die hohen Löhne, sondern auch unsere hohen Preise.