Kürzlich war ich an einer Tagung zum Thema Urbanisierung und überhaupt zur Zukunft der Städte.
Die Veranstalter hatten unter anderen Frauen und Männern vom Fach einen chinesischen Referenten eingeladen.
Der Mann spricht ein beinahe akzentfreies Deutsch.
Das Produkt, das der Europa-Vertreter eines an der amerikanischen Nasdaq notierten chinesischen Unternehmens vorstellte, ist weiter nicht wichtig.
Es geht hier vielmehr um meine spontane Reaktion auf den Redner.
Hätte er diesen Vortrag, dachte ich, vor fünf, sechs Jahren gehalten, ich wäre beeindruckt gewesen.
Aber jetzt ging mir die Frage durch den Kopf: Wer ist dieser Mann? Was ist dessen Aufgabe in Europa? Was tut der hier an dieser Veranstaltung?
Ich meine: für sein Produkt gibt es in Europa wohl kaum einen Markt.
Dazu noch: Ich bin ziemlich skeptisch gegenüber chinesischer Robottechnik, eine Technik, die bekanntlich nur deshalb funktioniert, weil jede Menge Daten gesammelt, gespeichert, ausgewertet und wieder zur Steuerung der Geräte eingesetzt werden.
Will irgendjemand in Europa vor dem Hintergrund der neuen politischen Grosswetterlage umfassende Daten über Betriebsabläufe in die Volksrepublik übermittelt haben, wenn wir schon grösste Datenschutzbedenken gegenüber Firmen mit Sitz in den USA haben?
Ich habe ihn in der Kaffeepause auf die neue Grosswetterlage angesprochen und ihm meine Bedenken dargelegt.
Was ein ziemlich delikates Unterfangen ist.
Schliesslich will man ja niemanden beleidigen.
Persönlich.
Die Diskussion war dann doch ziemlich aufschlussreich.
Wahrscheinlich ungewollt.
Er sprach über die amerikanische Propagandamaschine, gekaufte westliche Medien, welche China verzerrt darstellten und überhaupt, dass China ein friedliebendes Land sei und so weiter und so fort.
Er redete wie ein Offizieller, was zur nächsten Fantasie anregte: „Sie“ haben ihn wegen seines Sprachtalents nach Europa geschickt, mit der Aufgabe zu „networken“?
Was immer man darunter verstehen mag.
An einer solchen Fachtagung mit Experten werden fleissig Visitenkarten ausgetauscht.
Die Chinesen seien doch nicht blöd, meinte er, ihre ausländischen Märkte zu zerstören, der westliche Lebensstil als Vorbild sei doch in China inzwischen selbstverständlich.
Na ja, meinte ich, mit 1,4 Mia. inländische Konsumenten sei die Wichtigkeit des europäischen Marktes wohl ziemlich relativ.
Und McDonalds, Gucci, Louis Vuitton, Prada – ist ja okay, ich mag ja auch das Essen beim Chinesen.
Aber westlicher Lebensstil als Leitkultur?
In China?
Ich bitte Sie.
Ja, wir erinnern uns gerne zurück, an diese Reise quer durch China mit dem Zug, an die Begegnungen, an die Landschaften, an die beeindruckend lange Kulturgeschichte des Landes.
Die Menschen in den Städten kamen uns ziemlich westlich vor.
So äusserlich.
Aber ich denke, wir müssen uns von der Idee verabschieden, dass diese kurze Liebesbeziehung zwischen West und Ost, die wahrscheinlich auf beidseitigem Missverstehen beruhte, noch länger andauern wird.
Weil wir unsere Wirtschaft sowieso neu organisieren müssen, können wir das mit China als Werkbank und Rohstofflieferanten gleich damit und grundsätzlich überdenken.
PS: Ich habe eben die Firma gegoogelt, nachdem Safari die URL des Unternehmens nicht öffnen konnte („konnte Server nicht finden). Google bringt jede Menge Unterseiten des Unternehmens und öffnet keine einzige. Trotz .com-Adresse.
Erst als ich mein VPN ausschaltete, klappte es. In China mag man kein anonymisiertes Surfen im Internet. Gilt offensichtlich auch für Menschen im Westen.
Marianne Huber meint
Treffend. Und Sie kennen vielleicht Kai Strittmatter’s China-Buch „Die Neuerfindung der Diktatur“. Sehr informativ.