Selbstverständlich bin ich mir bewusst, dass wir uns auf einer solchen Reise an der Oberfläche bewegen. Will man tiefer in eine Gesellschaft eintauchen, braucht man mehr Zeit. Und auch den Willen dazu.
Am besten man liest ein Buch.
Kommt man mit Leuten ins Gespräch, was wegen der Sprachbarriere selten geschieht, erfährt man immerhin dies und das.
Vom Wunsch ins Ausland reisen zu können, zum Beispiel.
Oder von der Sorge unseres Guides auf der Grossen Mauer, eine Frau zu finden. Er habe da keine grossen Hoffnungen.
Das liegt nicht nur daran, dass es in China aufgrund der 1-Kind-Politik und der damit verbundenen hohen Abtreibungsrate weiblicher Föten wie in Indien einen unnatürlichen Männerüberschuss gibt.
24 Millionen Männer, habe ich dieser Tage gelesen, werden deswegen ohne Ehefrau bleiben. Davon weiss ziemlich sicher unser Guide gar nichts.
Für den 26-Jährigen, der uns die Pfade rauf und runter führte, treiben handfeste wirtschaftliche Überlegungen um. Man müsse der Zukünftigen eine schöne Wohnung bieten können und eigentlich auch noch über ein Auto verfügen.
Weder das eine noch das andere könne er sich auf absehbare Zeit leisten.
Dann sei da noch das Brautgeld.
Das gehe an die Eltern der Braut. (In Indien zahlt die Familie der Braut – andere Länder, andere Sitten.) Manchmal gäben diese die recht stolze Summe, die verlangt werde, der Tochter. Meistens sei das Brautgeld jedoch ein Zustupf an die Rente der Brauteltern.
In unseren Worten ausgedrückt: Wer eine Tochter hat, erwartet einen Return of Investment.
Eine solche Schilderung kontrastiert doch ganz erheblich mit dem Strassenbild, wo die Zara-Generation Hand in Hand den Schaufensterfronten entlang schlendert.
Mentale Unterschiede können auch in kurzen Gesprächen aufblitzen. Etwa zwischen den drei Hongkong-Chinesen und unserem Guide während einer Rast auf der Mauer.
Es ergab sich zwischen uns sofort ein lockeres, scherzhaftes Gespräch. Ich spulte, ohne dass sie gefragt hätten, die Antworten auf die immer gestellten Fragen runter: Aus der Schweiz, vier Kinder, drei Mädchen und ein Junge, zwei verheiratet, ein Enkel, 64 Jahre alt.
Wir lachten, weil gebildete Hongkong-Chinesen solche Fragen, ganz britische Tradition, nicht zum Auftakt eines Gesprächs stellen.
Wir lachten.
Die Frau, so um die vierzig, meinte darauf, nein, mit keinem der beiden Männer sei sie verheiratet. Sie seien Freunde und hätten sich vor drei Jahren in Tibet kennengelernt. Sie werde nicht mehr gefragt, ob sie verheiratet sei, sondern subtiler, wie viele Kinder sie habe. Die Antwort „keine“ löse dann jeweils einen breiten Fächer an Gefühlen aus, von Mitleid bis grösstem Misstrauen. Wobei letzteres in letzter Zeit überwöge.
Wenn sie noch hinzufügen würde, meinte sie, erneut herzhaft lachend, dass sie auch gar keine Kinder haben wolle, weil sie ihren Job mag und auch ihre Unabhängigkeit, würde sie wohl Prügel beziehen.
Wir redeten dann noch über die Bautätigkeit, die Cayennes und Land Rover, die trendig gekleidete Jugend mit ihren Handys und westlicher Lässigkeit. Das sei doch Maos Grosser Sprung nach vorn in die Tat umgesetzt.
Die Antwort ihres Haik-Partners war kurz aber prägnant: „Ich habe den Kerl immer gehasst!“
Unser Guide, der immer von „Chairmen Mao“ sprach, schaute kurz auf und widmete sich dann wieder seinen in Zellophan eingepackten Würstchen.