Machen wir uns nichts vor: In der Schweiz wird sehr viel Geld in die politische Arbeit gepumpt.
Nicht in die Arbeit der Parteien, sondern in die Aktionen von Komitees und Ad-hoc-Vereinigungen, die für oder gegen ein bestimmtes politischen Anliegen kämpfen.
Dabei kann es sich um ausserparlamentarische Vereinigungen handeln, die über Jahre hinweg aufgebaut werden.
Die unter dem Radar der Medien und damit der Öffentlichkeit fliegen, um zur gegebenen Zeit über den (virtuellen) Stammtischen die Lufthoheit zu übernehmen.
Ein solche Aktionsgruppe ist die in Aarau domizilierte „Perspective CH“.
DIe Anti-EU-„Auns“ hat sich 2005 folgende Ziele gesetzt.
- Souveränität, Freiheit und Unabhängigkeit der Schweiz und ihrer Bevölkerung.
- Eine weltoffene und aktive Aussenwirtschaftspolitik unseres Landes.
- Die wirkungsvolle und fortschreitende Verbesserung der staatlichen Rahmenbedingungen für den Werk- und Finanzplatz Schweiz.
- Alternativen zur abzulehnenden Vollmitgliedschaft der Schweiz in einer EU gemäss den Maastrichter Verträgen.
Wer möchte bei solch hehren Zielen nicht zustimmend nicken? Ich meine, so auf den ersten Blick?
Heute, im Oktober 2020, kann man festhalten: Alle diese Ziele wurden erreicht: Die Schweiz ist Souverän, frei und unabhängig. Sie verfolgt eine weltoffene und aktive Aussenwirtschaftspolitik. Die Rahmenbedingungen für den Werk- und Finanzplatz wurden dauernd verbessert, selbst der Fall des Bankgeheimnisses hat daran nichts geändert.
Und, besonders hervorzuheben: Mit dem Rahmenvertrag und weiteren bilateralen Abkommen wurden mit der EU Alternativen zu einer Vollmitgliedschaft ausgehandelt.
Wer diese Sätze liest, wird unweigerlich über das Kernproblem der schweizerischen Europadiskussion stolpern: Die Interpretation der Tatsachen.
Mindestenst 50 Prozent der Bevölkerung wird meinem Befund nicht zustimmen.
Die Mitglieder von „Perspective CH“ würden mir mit Überzeugung das Etikett EU-Turbo anheften.
Kommen wir also zu den Leuten, die sich in diesem Aargauer anti-EU-Zirkel engagieren, wobei wir uns auf das Co-Präsidium beschränken:
Greifen wir zwei Personen heraus, weil die sofort ins Auge fallen
Und man staunt.
Mit Ueli Maurer ist ein aktiver Bundesrat, ein Mitglied der Landesregierung, das Mitverantwortung für die Verhandlungen mit der EU trägt, Co-Präsident einer Vereinigung, die alles bekämpfen will, was die Schweizer Regierung mit der EU aushandelt?
Nein, staunen reicht da nicht. Mir verschlägt es die Sprache.
Mir verschlägt es die Sprache, weil diese Vereinigung mit Herrn Maurer im Co-Präsidium 2014(!), beim Auftakt der Verhandlungen zum Rahmenvertrag, sich bereits festgelegt hat:
Trotz…. unmissverständlichen Willensäusserungen des Souveräns will uns der Bundesrat mit einem Rahmenvertrag in die EU steuern. Beim geplanten Rahmenvertrag zur institutionellen Anbindung der Schweiz an die EU wiederholt sich die EWR/EU-Abstimmung von 1992. Dieser Rahmenvertrag soll uns – wie damals der Vertrag über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) – in die EU führen!
Mit an vorderster Front gegen das Rahmenabkommen kämpft CVP-Parteipräsident Gerhard Pfister und, ja, auch er ist Co-Präsident bei Perspective CH.
Manchmal mimt Pfister in seiner Doppelrolle als Parteichef und Co-Präsident den Wolf im Schafspelz.
Er tut dann so, als sei er lediglich ein analysierender Beobachter.
Damit niemand merkt, dass er hinter den Kulissen ein strategischer Mischler ist.
Dem vorliegenden Rahmenvertrag gibt er innenpolitisch keine Chance. Gleichzeitig warnt er die Gegner: Der Preis einer Ablehnung könnte hoch sein. «Wie hoch er ist, werden wir sehen.» Es kämen aber sicher keine einfachen Zeiten auf uns zu: «Wollen wir eigenständig bleiben, müssen wir auf die Zähne beissen. Aber das ist immer noch besser, als wenn wir im Frühjahr voreilig ein Rahmenabkommen unterzeichnen, das innenpolitisch null Chancen hat.»
Was die Rahmenvertragsgegner den Stimmbürger*innen verkaufen wollen, ist die fiktive Welt der Alice im Wunderland, politischer Nonsens also.
Ziel wäre ein Abkommen, das die heutige Demokratie, den Föderalismus und die Souveränität der Schweiz nicht beeinträchtigt und die bewährte Fortsetzung des bilateralen Weges sichert.
Bringen wir die Verlogenheit der schweizerischen Politik in Sachen EU auf den Punkt: Vorneherum tut man so, als wolle man ernsthaft verhandeln, während gleichzeitig in den Hinterzimmern die Weichen so gestellt werden, dass dem Ergebnis nicht zugestimmt werden kann.
Egal wie dieses auch immer aussieht.
Da ein wenig schrauben, dort noch ein Zusatz einfügen, bringt nichts, ist vertane Zeit.
Deshalb machen wir uns nicht länger etwas vor: Das Rahmenabkomme ist tot, weil es noch nie gelebt hat.
Kein Zweifel: Die EU weiss das auch.
PS: Bleibt die Frage, wer die Aktionsgruppe Perspective CH finanziert.
PS2: Vorgänger von Ueli Maurer im Co-Präsidium war bis 2019 Bundesrat Johann Schneider-Ammann. Sein kürzlicher Einwurf gegen das Rahmenabkommen in der NZZ muss man deshalb als Auftakt der Referendumskampagne von „Perspective CH“ werten.
Marc Schinzel meint
Die Organisation “Perspective CH“ mag wenig bekannt sein. Inhaltlich ist das alles nichts Neues. Hat jemand geglaubt, Bundesrat Maurer befürworte das Abkommen? Bei der SVP ist das eine Grundsatzfrage (Knackpunkt “fremde Gerichtsbarkeit“). Ein Rücktritt aus dem Bundesrat ist deshalb kein Thema. Ueli Maurers Grundhaltung war immer klar. Dass der heutige Entwurf ohne zusätzliche Präzisierungen nicht mehrheitsfähig ist, ist offensichtlich. Mit einem Teil der FDP, einem Teil der CVP und der GLP gewinnt man keine Abstimmung (zusätzlich müsste dann ja wohl auch noch das Ständemehr erreicht werden). Bei der CVP ist es offensichtlich, dass Parteichef Gerhard Pfister und Nationalrätin Elisabeth Schneider-Schneiter nicht auf derselben Linie liegen. Das Abkommen muss aber nicht tot sein. Gelingt es, bei den Lohnschutzmassnahmen und bei der Unionsbürgerrichtlinie klare Aussagen der EU über die Ausklammerung dieser Punkte vom Geltungsbereich des Abkommens zu erreichen, wird sich die Zustimmung links und mitte-rechts erheblich verbreitern. Die Frage ist nur, ob die EU willens ist, solche Präzisierungen in genügender Klarheit abzugeben.
M.M. meint
Träumen Sie weiter.
Marc Schinzel meint
Mache ich. Hätte Kolumbus nicht vom Seeweg nach Indien geträumt, wäre er auch nie nach Amerika gekommen, immerhin … 🙂
Steven meint
Kolumbus hatte mehr Glück als Verstand.
Marcus Denoth meint
Vielen Dank für diese Veröffentlichung, Herr Messmer!
Das ist allerdings starker Tobak – ob es andere Medien interessiert? Es wäre zu wünschen.
Eigentlich müsste zumindestens Herr Maurer aufgrund dessen zurücktreten!