Ein zentrales Problem der Krisenkommunikation ist die Rekonstruktion des Gestern.
Was heisst das?
Denken wir uns den Tag eines Unternehmensleiters mit Telefongesprächen – Festnetz, Handy, Videokonferenz; Sitzungen im Haus und eine auswärts, Mittagessen, E-Mails, auf-dem-Gang-Gesprächen, Aktenstudium, Small Talk.
Welches dieser unzähligen grösseren und kleineren Ereignisse das wichtigste des Tages war, diktiert der volle Terminkalender. Sagen wir, es sei ein Investitionsentscheid gewesen, der nicht nur für das Unternehmen sondern auch für den Standort eine entscheidende Weichenstellung darstellt.
Irgendwo in dieser Gemengelage ist kurz vor acht Uhr diese eine, private E-Mail, die einen Sekundenentscheid erfordert. Man kann so entscheiden oder auch anders. Unter Zeitdruck entscheidet man sich so.
Das ist die Realität des Gestern.
Diese wird völlig auf den Kopf gestellt, wenn durch ein Dokument diese eine E-Mail kurz vor acht, dieser So-Entscheid, Drag-and-Drop unters mediale Vergrösserungsglas gelegt wird. Und nun von Tausenden von Leuten mit völlig unterschiedlichen Interessen in verzerrter Vergrösserung beguckt und bewertet wird.
Dieser stark vergrösserte Ausschnitt ist aus der Sicht der Öffentlichkeit die Realität. Für den Betroffenen ist sie eine Fiktion.
Die schier unmögliche Aufgabe der Krisenkommunikation besteht nun darin, das Gestern – womöglich das Gestern letzte oder vorletzte Woche – so umzuschreiben, dass der Handlungsstrang besagten Tages nicht um den Investitionsentscheid sondern um die Interpretation des Tages durch die Öffentlichkeit neu aufgebaut werden muss.
Es liegt auf der Hand, schon aufgrund der Zuverlässigkeit des menschlichen Gedächtnisses, dass sowohl die aussenstehende Öffentlichkeit als auch der innen Betroffene erste Entwürfe der Geschichte liefern, die zu allererst einmal ihren Interessen und Vorstellungen entspricht.
Jede Seite steuert ihren Teil dazu bei, sodass sich die Rekonstruktion des Gestern sich immer weiter weg vom tatsächlichen Gestern des betroffenen Unternehmensleiters bewegt.
Man schreibt auf beiden Seiten an einer Fiktion. Der grösste gemeinsame Nenner ist das Missverständnis.
In einer solchen Rekonstruktion des Gestern steckt so viel Wahrheit wie in der „Millennium–Trilogie“ von Stieg Larsson.
Die einzige Frage, die zählt, ist, wie schlüssig ist die Geschichte, wie gut sind die Übergänge von einem zum anderen Kapitel. Und ob es gelingt, den Handlungsstrang der anderen in den eigenen einzubauen, sodass eine einzige Geschichte daraus entsteht. Eine Fiktion, die von einer Mehrheit als Wahrheit akzeptiert wird.
Krisenkommunikation ist also die Kunst, den jeweils wenigen Fakten, die so oder so interpretiert werden können, eine gewollte, heisst zielführende Richtung zu geben. Sie so zu formulieren, dass sie der Vorstellungswelt der Öffentlichkeit möglichst nahe kommt.
Krisenkommunikation bedeutet, eine Fiktion zur Realität zu machen, mit ein paar wenigen Fakten eine schlüssige Geschichte zu schreiben. Und im Viertelstundentakt die Zwischenbemerkungen, Anwürfe, Entgegnungen, Lügen, Fantasien, Absurditäten in die „Geschichte in progress“ einzubauen.
Am Ende der Entwicklung hat man eine Story, die von denen, die sich durchgesetzt haben, als Tatsache verkauft wird. Oder wie es so schön heisst: Der Sieger schreibt die Geschichte.
merlinx meint
Ich wäre schon zufrieden, jeden Morgen als erstes einen solchen Text lesen zu können! (Wieso sind Sie eigentlich nicht Regisseur geworden, Theater oder Film? In Trenchcoat und Schlapphut sehe ich Sie eher nicht … „Millenium“ übrigens hat mich schwer beeindruckt, und die sahen alle so normal aus, nicht gestylt.)
Die Ereignisse der vergangenen Tage und die Art und Weise, wie darüber berichtet wurde, haben mich manchmal an die alte griechische Tragödie erinnert, – beim Zeus! – nicht inhaltlich, nur formal, mit ihren Elementen der Teichoskopie und der Botengänge.
Ein zweites Problem der Krisenkommunikation, das in Ihrer kurzen Abhandlung noch nicht berücksichtigt ist, nämlich die „Konstruktion des Morgen“, halte ich für ebenso schwierig, zugleich notwendig und nicht weniger fiktional; anstelle des Missverständnis, verziert durch Entrüstung, Scham etc., tritt jetzt die Utopie, oder das Niewieder, begleitet von Hoffnung, Satisfaktion, etc.
In unserem Fall sollte es eigentlich um Rechtgüter resp. deren Beachtung und um allfällige Sanktionierung gehen. Dafür habe ich noch Verständnis; weniger für die handelnden Personen, da schon eher Mitgefühl.
Der beste Satz, bis jetzt, war wohl: „We have money, you have God“ – oder lautete er andersrum? …