Die Zeitungen sind voll mit Interpretationen des Freihandelabkommens zwischen der EU und Großbritannien.
Jubel beim Telegraf und beim express.
Ich habe mich schon gestern auf die neue Kolumne von Markus Somm in der Sonntagszeitung gefreut.
Er hat uns alle nicht enttäuscht.
„Boris sei Dank – ein glänzendes Brexit-Abkommen, das Grossbritannien mehr bringt als der mächtigen EU.“
Nun soll man ihn nicht missverstehen: das ist kein politischer Kommentar, das ist Satire, das ist rechter Humor.
Somm läuft sich für den Nebelspalter warm.
Für alle anderen gilt: Boris Johnson ist auf der ganzen Linie gescheitert, wenn man ihn denn an seinen Versprechungen im 2016-Abstimmungskampf misst.
Oder später an seinem Wahlmanifest. Oder in vergangenen Wochen mit all seinen Pomp and Circumstance (Prunk und Protz)-Verlautbarungen.
Er ist fundamental am Ziel gescheitert, das jede Nation mit einem Freihandels erreichen will: Den Abbau von Zoll und Bürokratie und damit den möglichst friktionslosen Zugang zum Markt des Vertragspartners.
Deshalb ist dieser Abschluss zum allerersten Mal in der Geschichte von Handelsverträgen einer, der weniger bringt als zuvor war.
Dieses Faktum kann nur mit krudem Nationalismus übertüncht werden.
Wenn ich das interpretiere, was die FT, der Economist, die NYT und andere ernstzunehmende Medien schreiben, dann sieht das doch so aus:
Die deutschen, französischen und japanischen Autobauer – es gibt ja keine britischen mehr – haben mit der Zoll- und Quotenfreiheit ihr Investitionen in England gerettet.
Vorerst.
In diesem Vertrag steht auch, dass sobald die Kontinentaleuropäer Batterien für E-Autos in eigenen Fabriken bauen, werden die bis anhin in Asien hergestellten Batterien nicht mehr von der Inlandsquote ausgenommen.
Das heisst: Britisch ist in drei Jahren nur noch, wenn die Batterie aus europäischer Produktion importiert wird.
Zwingend.
Ob mit oder ohne Europäischem Gerichtshof: Britische Unternehmen müssen sich weiterhin an die Normen und Regeln der EU halten.
Nicht etwa, weil das nur die EU will.
England hat eben erst einen ersten bedeutenden Freihandelsvertrag mit Japan abgeschlossen und ist mit Kanada übereingekommen, dass sich an den Handelsbeziehungen voerst nichts ändern soll.
Beide Verträge basieren auf EU-Verträgen, auf Normen und Regeln, die sich dynamisch weiterentwickeln werden.
Deshalb ist es bemerkenswert, dass die nationale Rhetorik von Politikern in der heutigen Wirtschaftswelt kaum noch relevant ist, ausser dass sie, wenn man nicht aufpasst, (noch) mehr Büroraktie bedeutet.
Jedes Unternehmen, das nach dem 1. Januar 2021 Waren in die EU exportieren will, wird sich an die Vorschriften dieses Marktes halten, egal was Westminster auch immer entscheiden wird.
Weshalb schon jetzt festgestellt werden kann: England wird vielleicht mal da oder dort eigene Regeln erlassen, fürs Inland.
Aber selbst wenn Waren nach Nordirland geliefert werden, müssen sie den EU-Normen entsprechen. Und durch die Zollabfertigung.
Überhaupt Nordirland. Wie es aussieht, hat dieses Land den Sechser im Brexit-Lotto gewonnen. Die sind sowohl weiterhin im gemeinsamen Markt der EU als auch Teil des Binnenmarktes des Vereinigten Königreichs.
Die privilegierte Situation zeigt sich etwa darin, dass nordirische Studenten am europäischen Austauschprogramm Erasmus teilnehmen können (Irland bezahlt) und die Bauern weiterhin aus dem Agrarsubventionstopf der EU teilernährt werden.
Man muss sich das einfach mal vorstellen: Der Bundesrat würde einen Vertrag, zum Beispiel den Rahmenvertrag, mit der EU unterschreiben, wonach vor Genf neu eine Landesgrenze verlaufen würde.
Mit anderen Worten: Nordirland ist futsch.
Das grösste Versagen von Johnson und seiner Regierung liegt jedoch darin, dass der gesamte Dienstleistungssektor (Finanzen, Versicherungen, IT, Berater, Anwälte etc.) oder 80% des gesamten britischen Wirtschaftsleistung (Bruttowertschöpfung) mit 82% der Beschäftigung, vom Vertrag ausgenommen ist.
Man muss sich das mal vorstellen.
Mit anderen Worten: Mit diesem von Herrn Somm und ein paar anderen Träumern hochgejubelten Vertrag wurde der freie Wirtschaftsverkehr zwischen England und der EU von vorher 100 Prozent auf neu gerade mal 20 Prozent zusammengestrichen.
Wenn das mal kein bemerkenswertes Resultat ist!
Marc Schinzel meint
Ich bin weder Brexit-Fan noch Brexit-Hater. Schon gar nicht stelle ich einen Bezug zur Schweiz her, die in einer ganz anderen Situation ist. Ich bin froh, dass das Abkommen noch zustande kam. Dieses birgt Chancen und Risiken. Ich würde Grossbritannien nicht voreilig abschreiben. Es ist keineswegs so, dass GB alle Finanzdienstleistungen dem Abkommen unterstellen wollte. London suchte bewusst auch mehr Freiheiten. Etliche Finanzdienstleistungen profitieren davon, den EU-Regeln nicht unterstellt zu sein. So lässt es sich leichter geschäften mit dem arabischen Raum, den USA, China, Südostasien. Für andere Dienstleistungen gilt das Äquivalenzprinzip. Dort sorgten britische Banken aber oftmals schon vor, indem sie ihre Regelungen anpassten. Das sehr wichtige Zinsabsicherungsgeschäft ist zB geregelt. Viele britische Finanzdienstleister bauten ihre Niederlassungen in der EU auch schon kräftig aus, etwa in Frankfurt. Diese Verschiebungen fanden bereits statt. Die Betreuung der britischen und europäischen Kunden ist gesichert. Klar müssen noch viele Einzelfragen geklärt werden. Doch dafür gibt es nun keinen extremen Zeitdruck mehr.
Jean Ackermann meint
Es ist schon unglaublich verbreitet, wie mit der Muttermilch aufgenommen, EU ist die Zukunft und unser Schicksal. Dafür liebe ich Boris dass er dieses Denken total blosstellt. Was es kostet!!!!????!!!?. Schaut doch einmal diese EU-Fritze an, Allle! schon 5 mal konkurs! Sie haben den grossen Teil der Spargelder verprasst und sind immer noch total verschuldet. Das spielt ALLES keine Rolle, sie haben dafür Boris ein bisschen in die Pfanne gehauen und die Schweizer gründlich in die Hosen pissen lassen.
Arlesheimreloadedfan meint
Lieber Jean,
hast du dich schon um eine Stelle in Dr. Somms neuem Projekt beworben.
Du bist der Mann , der ihm noch fehlt.
U. Haller meint
2000 Seiten Vertragstext sorgfältig gelesen und analysiert? Chapeau!
Phil Bösiger meint
M.M. hat recht; ein bilaterales Abkommen hochzujubeln, der für 80% des Export-Handelsvolumens den Marktzugang erschwert, kann nur ein Boris Johnson (oder der andere Vogel da auf der anderen Seite des Atlantiks) als Erfolg darstellen. Für die restlichen 20%, also für Industriegüter, werden die EU-Regeln gelten – ab 2021 einfach ohne jedes Mitspracherecht der Briten. Wir „unabhängigen“ Schweizer kennen das ja.
Leute, die ihre sieben Sinne noch beieinander haben, erkennen jedoch sofort, dass Grossbritannien (wie lange das „Gross“ noch bleibt, darauf darf gewettet werden) den Abstimmungsfehler von 2016 mit dem Brexit-Abkommen von 2020 verschlimmert hat.
Schottland und Nordirland werden sich wohl von Grossbritannien verabschieden. Wales kann sich weder das eine noch das andere leisten und wird wohl zur virtuellen Kanalinsel als neues Steuerparadies; ohne Spielcasinos, Geldwäscherei und Briefkastenfirmen nicht überlebensfähig.
Grossbritannien hat es geschafft, sich auch noch in den zweiten Fuss zu schiessen – congrats! Dass Her Majesty Bethli Zwo das noch erleben muss!