Gestern haben wir auf unserem Gang durch die Stadt darüber diskutiert, was es wohl braucht, damit ein demokratisches System in eine Diktatur kippt. Auslöser der Diskussion war dieser Landratsentscheid von gestern für ein Verbot von drei Lehrmitteln an Baselbieter Schulen.
Man mag jetzt denken, das ist jetzt aber reichlich übertrieben, schliesslich handelt es sich beim Landrat um ein gewähltes Parlament, wo eine Mehrheit einen demokratischen Entscheid gefällt hat, und erst noch „über einen Mist“, wie einer der Verbotsbefürworter meinte.
Nur: Es ist ja nicht so, wie viele noch immer glauben, dass plötzlich eines frühen Morgens Männer in braunen Hemden und Lederstiefeln durch die Stadt marschieren werden.
Unübersehbar ist, dass derzeit autoritäre Systeme eine grössere Anziehungskraft ausüben, als die gerade mal 19 verbliebenen Demokratien auf diesem Planeten.
Der Landratsentscheid ist in der Tat demokratisch zustandekommen. Die Sieger über Mille feuilles, Clin d’oeil und New World können sich auf die Schultern klopfen und so tun, als wäre das schon okay.
So wie die Männer in der Schweiz Jahrzehnte lang völlig okay fanden, dass die Frauen weder das Stimm- noch das Wahlrecht hatten. War schliesslich ein demokratischer Entscheid.
Der Rückbau findet in einem liberalen System Schritt für Schritt und deshalb fast unmerklich statt. Wer heute Bücher im Fremdsprachenunterricht verbietet, kann morgen in Sorge ums Kindswohl auch Lehrmittel in Biologie verbieten.
Trumps „Fake News“-Vorwurf bei Nachrichten, die ihm persönlich nicht in den Kram passen, wird inzwischen auch bei uns von Politikern und Wirtschaftsmenschen ohne Bedenken verwendet.
Womit gesagt wird: Nachrichten sind Mist.
Es kann auch ziemlich rasch gehen, wie bei den Römern. Denn dort gab es ja auch diesen Bruch von der Republik zur Cäsaren-Diktatur.
Katastrophale Zustände liessen das System am Ende kippen.
Damals (22 BC) litt Rom unter der Pest, deren Ausbreitung durch verheerende Überflutungen des Tiber begünstigt wurde. Dazu kamen noch die üblichen Malariaerkrankungen, TB-Infektionen und Durchfallkrankheiten wegen Wurmbefall.
Was den Senat zur Überzeugung trieb, man brauche jetzt statt einer uneinen Quasselbude Augustus an der Spitze des Staates.
Seine lange Regentschaft, die gleichzeitig die Hochblühte des Römischen Reichs markiert, könnte als Beleg angeführt werden, dass autoritäres Regieren besser sei als demokratisches Gequassel, das die Gesellschaft nur spaltet.
Roger von Wartburg meint
Diese Interpretation vermag ich überhaupt nicht zu teilen, im Gegenteil bin ich der Ansicht, dass es genau anders herum ist: Im Kontext des Passepartout-Konkordats und dem Konzept der so genannten „Didaktik der Mehrsprachigkeit“ wurde Fremdsprachenlehrkräften, die an der Universität ein mehrjähriges Studium ebendieser Fremdsprachen mitsamt der entsprechenden Didaktik absolviert hatten, ein neues Unterrichtsmodell, dessen Wirksamkeit sich nirgendwo erwiesen hatte und im internationalen Vergleich als geradezu exotisch gelten muss, top-down als alternativlos verordnet. Sie wurden zu zwei Dutzend Weiterbildungsterminen verpflichtet, ohne deren Bewältigung ihnen sogar der Entzug ihrer Unterrichtsbefähigung (!) angedroht wurde. Ein ähnlich übergriffiges Vorgehen professionellen Berufsleuten gegenüber ist mir im Bildungssektor nicht bekannt. Und welcher Seite werden jetzt totalitäre Tendenzen vorgeworfen?
Felix Hoffmann meint
Es ist beruhigend, dass auch andere der gegenwärtig antidemokratischen Tendenzen in Baselland gewahr sind. Diese am Abbruch von Passepartout festzumachen ist grotesk. Denn es ist die Implentierung dieser von Beginn an zum Scheitern verurteilten Ideologie, die diktatorisch, von oben herab vollzogen wurde. Deren Ende hingehen wurde demokratisch eingeleitet und beschlossen.
Alex Schneider meint
Nun übertreiben Sie mal nicht!
Michael Weiss meint
Es werden nicht drei Lehrmittel verboten werden. Aber die Ära, in der nur noch Lehrmittel zugelassen sind, die der zumindest höchst fragwürdigen sogenannten «Didaktik der Mehrsprachigkeit» entsprechen, wird zu Ende gehen. Wir werden zurückfinden zu einer Didaktik, in der Sprachstrukturen wieder gelernt werden, in der man das Schwierige auf dem Einfachen aufbaut, in der man neues Wissen durch Übung festigt und aufhört, sich der Illusion hinzugeben, man könne mit zwei Lektionen Fremdsprachenunterricht pro Woche, in welchen nur eine einzige Person die Sprache überhaupt sprechen kann, gleich vorgehen wie bei Kindern, welche ihre Muttersprache erlernen.
Der Landrat hat an diesem Tag an der Demokratie gesägt, aber nicht, indem er eine Didaktik in die Schranken gewiesen hat, an die nicht einmal mehr ihre Verfechter noch ernsthaft glauben. Der Beschluss, den Bildungsrat abzuschaffen, muss uns hingegen mehr beunruhigen. Da ist ein Gremium mit einer ohnehin auf wenige Bereiche beschränkten Entscheidungskompetenz, das ein paar Landräten zu mächtig ist und nicht in ihrem Sinn entscheidet, und schon beschliessen diese Herren, das Gremium zu entmachten. Was kommt als nächstes? Wird demnächst das Kantonsgericht entmachtet, weil es unlängst eine Initiative für gültig erklärt hat, die nach Ansicht des Landrats ungültig war?
Gryff meint
Der #fakenews Begriff ist wohl die grösste der erwähnten Gefahren, gerade in der Paarung mit der Filterblase. Deshalb braucht es den Stomoxys calcitrans, den Wadenbeisser, die freie Meinungsäusserung – und sei sie noch so kläffig, mühsam, anstrengend. Solange der Diskurs noch stattfindet, man sich verbal bekämpfen und prügeln darf, bleiben die Springerstiefel fern. Auch wenn einmal ganz demokratisch etwas entschieden wird, was Stomoxys calcitrans nicht so passt… Das liberale System bröckelt nicht durch solche Entscheide, sondern durch deren Unterdrückung. „So darf man nicht stimmen“ ist schlimmer als „falsch“ zu stimmen.
P.S. Die „19“ Demokratien sind aber bitte auch etwas gar fake-ig. Halb Westeuropa als „flawed democracy“ zu bezeichnen, ist doch etwas gewagt…
Henry Berger meint
Schon die alten Griechen haben vom sog. „Verfassungskreislauf“ gesprochen. Sie gingen davon aus, dass jede Demokratie früher oder später durch eine despotische Regierung abgelöst wird, der dann wieder die Demokratie folgt. https://de.wikipedia.org/wiki/Verfassungskreislauf
In der Schweiz macht mir vor allem das etwa gar einfach Demokratie-Verständnis (Demokratie = die Mehrheit bestimmt) grosser Kreise Kopfzerbrechen. Demokratie bedeutet u.a. einen klaren Minderheitenschutz und der Einbezug aller gesellschaftlich Relevanten Gruppen in den Meinungsbildungsprozess.
Betreffen BL: Man könnte sich viel Arbeit und Abstimmungen sparen, wenn die Gruppe „Starke Schule…“ eine Initiative einreichen würde, dass die Bildungsdirektion des Kantons BL abgeschafft wir und die Bildung im Landkanton durch die Gruppe „Starke Schule….“ geleitet wird.
gotte meint
als im Baselbiet anlässlich der fusionsabstimmung die höhenfeuer brannten, autos zerkratzt und plakate zerstört wurden, freiheitsbäume auf der einen seite gepflanzt und auf der andern seite ausgerissen wurden und man im landrat anstelle einer debatte es beim liedersingen bewenden lassen wollte – das war der moment, als mir dämmerte, dass der boden unseres demokratischen systems wohl etwas dünner ist, als ich mir das bis dahin gedacht hatte. seither bin ich nicht mehr der meinung, dass das „kippen eines systems“, wie Sie es nennen, in der schweiz ausgeschlossen ist. gerade deshalb ist es so wichtig, dass sich auch die leisen und die bedachten nicht in die privatheit zurückziehen.
G. Koller meint
Ich war damals auch frustriert, dass eine zeitgemässe Weiter-Entwicklung des Wirtschafts- und Lebensraumes „Nordwestschweiz“ wohl nur wegen (aus historischen Gründen grad noch) nachvollziehbaren Ressentiments abgelehnt wurde.
Aber darin nun einen „dünnen Boden unseres demokratischen Systems“ festzustellen, halte ich für übertrieben. Mehr beunruhigen sollte einen, dass unter diesem „dünnen Boden“ sich ganz demokratisch eine feste Schicht der Nicht-Wähler, Nicht-Abstimmenden gebildet hat, welche in den meisten Fällen die Hälfte oder mehr ausmachen.
Auf die Fusionsabstimmung bezogen haben demnach bloss 35,70 % der BL-Stimmberechtigten dagegen gestimmt (wenn ich richtig gerechnet habe …).
Medizinisch betrachtet, leben wir also in einem „adipösen“ demokratischen System, ein bisschen unbeweglich, aber auch gut abgepolstert gegen extreme Attacken, und eben mit viel Reserven, die nach Bedarf angezapft werden könnten.
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John Williams, Augustus
Roman, dtv, 2016)