Ohne Eisenbahn könnten wir nicht Neujahr feiern, ich meine kollektiv im Rückwärtstakt von zehn bis null zählend, und das vom Nordkap bis nach Sizilien und von Spanien bis zur weissrussischen Grenze.
Denn erst die Eisenbahn machte Schluss mit den lokalen Uhrzeiten, wo jede Stadt und Gegend die Turmuhr nach eigenem Gusto stellte.
Mit der Eisenbahn brauchte man auch einen Fahrplan, dessen Ankunfts- und Abfahrtszeiten nicht nur in Basel galten, sondern auch in Zürich.
In diesen letzten Tagen des Jahres wird auf allen Kanälen Rückschau gehalten.
Es soll ja Leute geben, die sich tatsächlich für solche Rückschauen interessieren. Gut, es sind vor allem Medienleute, die sich in diesen Tagen mit den Nachrichten von gestern und vorgestern beschäftigen.
Weil ja sonst nichts läuft.
Ausser dass ein Kreuzfahrtschiff brennt oder ein Flugzeug vom Radar verschwindet, wie man seit diesem Jahr Flugzeugabstürze umschreibt. Wenn man zurückblickt, dann scheint nichts so kurz zu sein wie ein vergangenes Jahr.
Und man erinnert sich auch an glückliche Momente.
Wobei: Glück ist nicht das Ziel, es ist eher ein Nebenprodukt. Das sicherste Rezept, nicht glücklich zu sein, ist ein Leben zu führen, wo man sich selbst unablässig in den Mittelpunkt stellt.
Also dieses Facebook-Leben führt, wo alles und jedes, was man gerade so tut und isst, in Wort und Bild festgehalten werden muss. Was am Ende eines Jahres nichts als einen grossen Müllhaufen an Surrogat-Happiness hinterlässt.
Axiom: Glücklich ist, wer die Möglichkeit hat, andere glücklich zu machen.
Ich bin inzwischen in einem Alter, wo ich mir für ein kommendes Jahr nichts mehr vornehmen muss, weil ich nichts mehr werden und erreichen will.
Ich mache keine Karriere mehr, muss nicht mehr als im Jahr zuvor verdienen, brauche keine Anerkennung von vermeintlich wichtigen Leuten mehr, will kein Marathonrennen bestreiten und sicher nicht abnehmen.
Das ist nicht Ausdruck von Resignation, sondern der glückliche Zustand von Freiheit.
«Design your life» ist eine Maxime, die wir unseren vier Kindern mit auf ihren Weg gegeben haben, was sie zu unserer Freude und unserem Glück auch umsetzen.
Und für uns gilt, seit sie weg sind: «Reduce it to the max.»
Weniger besitzen und weniger kaufen. Wenn wir für ein paar Wochen verreisen, dann hat das, was wir unterwegs brauchen, im Handgepäck Platz.
Und manchmal ist der Kühlschrank einfach leer, ein Bild, das noch vor wenigen Jahren wenn nicht leichte Panikattacken bei einem selbst, so doch laute Proteste der jüngeren Generation ausgelöst hat.
Anders als früher gilt für mich deshalb nicht mehr, dass nichts so lange scheint wie ein kommendes Jahr.
Weil mir im Grunde genommen dieser Schlag-zwölf-Uhr-Jahreszahlwechsel so egal wie einem Chinesen ist.
Wenn schon lebe ich nach Jahreszeiten.
Es gibt doch nichts Schöneres, als rauszuschauen in diese in frische Zuckerwatte gepackte Landschaft. Ich freue mich auf das helle Grün des Frühlings, auf die heissen Sommertage und den bunten Herbst.
Ich freue mich jeden Abend auf das Frühstück am nächsten Tag, weil wir das Brot, dass wir essen, am Abend zuvor selbst gebacken haben.
Ich freue mich einzutauchen in fremde Kulturen und Landschaften.
Und ich freue mich jeden Montag darauf, diese Kolumne zu schreiben und täglich ein paar Gedanken in meinem Blog zu veröffentlichen.
Ich wünsche allen ein glückliches neues Jahr.
Zuerst erschienen in der Basler Zeitung vom 31. Dezember 2014.
gotte meint
bevor ich hier wieder mit chérie beschinzelt werde, hier noch schnell mit den passenden worten eines andern wahrhaft unsterblich toten: caro amico ti scrivo…E se quest’anno poi passasse in un istante, vedi amico mio, come diventa importante
che in questo istante ci sia anch’io. L’anno che sta arrivando tra un anno passerà io mi sto preparando è questa la novità.“ (@meury: es ist weder dante noch latein, es ist DALLA).
Redbüll meint
ma cos’è che sta volando, sembra una pallina…(il tempo sta volando…) 🙂
Marc Schinzel meint
@Gotte: Wie das Leben spielt: „L’anno che verrà“, das Sie ansprechen, ist mir eines der liebsten Lieder überhaupt. Charmant finde ich die Zeile „anche i preti potranno sposarsi, ma soltanto a una certa età“. Dieses Lied, Dallas wunderschöne Ballade „Anna e Marco“ und Bennatos „L’isola che non c’è“ machen nachdenklich. Gegen den lupo bzw. die stella di periferia verblasst der Chérie, gar keine Frage.
christina kunz meint
ein guter Text, danke!
Meury Christoph meint
„Reduce it to the max“ ist für die 3. Runde eine gute Vorgabe. Verlängern wir sie doch mit dem Zusatz: „Sei grosszügig!“ Das wäre auch ein gutes politisches Leitmotiv. Es geht uns gut, also darf es Allen gut gehen. Auch den Menschen am Rande der Gesellschaft, den Armen, SozialhilfebezügerInnen, usw. Also im neuen Jahr keine Kreuzzüge mehr gegen die Sozialbudgets. Insofern können Vorsätze doch auch etwas Gutes haben. Mehr grandezza! Mehr Grosszügigkeit.
elisabeth schiess meint
euch beiden ein glückliches Neues Jahr, ja nicht die Zahlen zählen, sondern die Tage, die wir erleben.