Anfangs September habe ich geschrieben, dass die Zuwanderungsinitiative für die SVP bloss noch ein Warmlaufen für den kommenden Kampf ums Rahmenabkommen ist.
Und in der Tat: Die SVP-Initiative zur Begrenzung der Zuwanderung kann man abhaken.
Sagen zumindest die Umfragen.
Seit letzten Samstag ist der Kampf ums Rahmenabkommen mit einem Kommentar von alt Bundesrat Schneider-Amman in der NZZ lanciert.
Er plädiert dafür, das ganze Paket in wesentlichen Punkten neu zu verhandeln.
Weil:
Drei Klarstellungen reichen nicht aus. Die Souveränitätsfrage muss angesprochen werden.
Man fragt sich: Was zum Geier hat den Mann geritten?
In zweierlei Hinsicht nämlich.
Erstens: was soll dieser Einwurf kurz vor der zweitwichtigsten Europaabstimmung der nächsten Zeit und zweitens: verfolgt der Mann die Verhandlungen zwischen Grossbritannien und der EU nicht?
Die Verhandlungen mit den Briten drehen sich um nichts anderes als darum, wie man Souveränität in dieser komplexen Welt definiert.
(Was Barnier, den Chefverhandler der EU, zur Bemerkung animierte: Man respektiere sehr wohl die Souveränität Grossbritanniens über dessen Küsten, man interessiere sich lediglich für den Fisch, der darin herum schwimmt.)
Würden wir keine Waren produzieren und Dienstleistungen exportieren – die Sache mit der Souveränität wäre rasch geklärt.
Doch dieser vermaledeite Zwang aller, Geld verdienen zu müssen…
Die Briten werfen der EU dasselbe vor, wie der pensionierte Bundesratsmann: Die Union respektiere nicht, dass Großbritannien ab dem 1. Januar ein souveränes, d.h., von der Union unabhängiges Land sei.
Weshalb die Briten souverän und unabhängig von der EU bestimmen wollen, wie sie die Gesetzgebung in ihrem Land ausformulieren, zum Beispiel was staatliche Beihilfen anbelangt.
Wie Johann Niklaus Schneider-Ammann sind die Briten der Meinung, also deren Regierung, dass die EU den milliardenschweren britischen Absatzmarkt nicht verlieren wolle.
Und deshalb, keine Frage, zu weitgehenden Konzessionen bereit wären.
Schliesslich wollen die Briten das, was auch die Schweizer wollen: Einen möglichst ungehinderten Zugang zum Binnenmarkt mit seinen 450 Millionen Konsumentinnen und Konsumenten.
Der grösste Wirtschaftsraum der Welt.
Seit vier Jahren verhandeln Briten und die Europäer über die Bedingungen für den Zugang zu diesem exklusiven Markt.
Und kommen nicht vom Fleck, weil die Integrität des Binnenmarktes und dessen Regeln für die EU wichtiger sind, als die ohnehin nicht mehr zu vermeidenden Einbussen im britischen Markt.
Zur Empörung der Briten (und der Schweizer) verhandelt die EU so, wie das jede grosse Wirtschaftsmacht tut: Die Spielregeln diktierend.
Die auf europäisches Recht spezialisierte Juristin Anu Bradford hat dies in ihrem dieses Jahr erschienen Buch „The Brussels Effect: How the European Union Rules the World“ eindrücklich dargestellt.
Klar, die EU ist eine Weltmacht ohne Flugzeugträger und Militärbasen. Was heutzutage aber nicht mehr mit „schwach“ gleichzusetzen ist.
Die EU ist eine Weltmacht, weil sie die Regeln und Normen bestimmt.
Weltweit.
Sie tut das einerseits in ihren Freihandelsverträgen, inzwischen 41 mit 72 Ländern rund um den Globus, und andererseits und vor allem, in dem sie verbindliche Regeln für den Binnenmarkt festlegt.
Danach läuft das von selbst:
Companies that provide goods or services to the EU must comply with EU rules. And once these companies have incurred the costs of adjusting their conduct or production to EU regulations, they typically extend those rules to govern their global operations. This allows them to take advantage of scale economies associated with uniform production, which is often cheaper than tailoring their conduct and production to each market in which they operate.
Dem EU-Regelwerk unterwerfen sich auch chinesische Firmen. Die haben zwar einen riesigen Heimmarkt aber keine hochentwickelten Regulierungsinstitutionen.
(Wer mehr wissen will, kann das Interview zum Buch hier nachlesen: How the European Union Rules the World)
Und jetzt glaubt also die Schweiz, sie könne nicht nur bis in alle Ewigkeit jede neue EU-Regel hinterfragen und für sich eine massgeschneiderte Lösung aushandeln?
Mit einer Portion Souveränität und ein wenig Volksbeteiligung?
27 EU-Länder, also zum Beispiel Österreich, Dänemark, die Niederlande, Schweden (und Norwegen), alles Länder, die ihre Souveränität an einem Brüsseler Kleiderhaken aufgehängt haben, verständigen sich auf gemeinsame Regeln, so dass keiner den anderen bevorteile und nur dieses wohlstandssatte Land mitten in Europa soll immer eine Sonderregel bekommen?
Mit viel Souveränität und es bitzeli Volksabstimmung? Und wenn das Volk nicht will, dann verhandeln wir halt nochmals sechs Jahre?
Der Schwanz wedelt mit dem Hund.
Nach der Abstimmung zur Begrenzungsinitiative wird also der Bundesrat seine Diplomaten nach Brüssel schicken und denen mitteilen: Was wir in den vergangen Jahren verhandelt haben, wollen wir nicht mehr?
Brüssel wird antworten: „We will not be renegotiating, but we are dedicated to its full and timely implementation – nothing more, nothing less.” (Die Brexit-Verhandlungen generieren fast täglich neue Merksätze, zum Beispiel auch den: „Take it or leave it.“)
In einem gebe ich allerdings Herrn Schneider-Ammann recht, wenn er von der schweizerischen Souveräntität schreibt, also innerhalb eines Rahmens von Recht und Zugzwang die Geschicke selber bestimmen zu können.
Diesen Rahmen einzuschränken, ohne dafür ein Mehr an Mitsprache zu erhalten, finde ich staatspolitisch unklug.
Ich fände es auch besser, man würde als souveräner Staat dort mitbestimmen, wo die Regeln gemacht werden.
Marc Schinzel meint
Ich will dem nicht grundsätzlich widersprechen. Von der EU abkoppelnd soll und kann dich die Schweiz nicht. Festhalten kann man allerdings auch: Aussen- und sicherheitspolitisch ist die EU ein Zwerg. Die haben nicht einmal genügend Transportflugzeuge, um in ihrem eigenen Raum – geschweige denn in Europa generell – ein Minimum an Sicherheit gewährleisten zu können. Die Liste der kläglichen Misserfolge ist lang: Von Zypern über Bosnien (Srebrenica!), Kosovo, Griechenland/Türkei bis hin zur Flüchtlingspolitik und zu Nordstream 2. Gemeinsame Aussenpolitik, zB hinsichtlich Nordafrika, Naher Osten, Türkei, Russland = Fehlanzeige. Kakophonie pur. Zug kommt jeweils nur von aussen hinein. Ohne die USA hätten wir immer noch Krieg in Bosnien und im Kosovo und wohl längst auch Krieg zwischen Griechenland und der Türkei.
paule meint
Man reibt sich die Augen und denkt: Der schreibt das allen Ernstes?
Bringold Margareta meint
Man reibt sich die Augen und denkt: Schon wieder ein lesenswerter Blogbeitrag von M. M. verschinzelt.
Arlesheimreloadedfan meint
„Wir sind Weltmeister im Aufschieben von notwendigen Reformen“.
Der Satz stammt von Mosimann,einem Verwaltungsrat der „Ammangroup“.
Er sagte das Rahmenabkommen sei extrem wichtig für die Schweiz.
Johann Schneider wurde vielleicht bewusst in die Politik abgeschoben.
Schon sein Schwiegervater Ulrich Amman war im Bundeshaus dafür bekannt,während Sitzungen ein Nickerchen zu machen.
Aber schlussendlich ist ja auch den Basler,das Schutten wichtiger als Europa.