Chand Baori, Abaneri (Rajasthan), eine der ältesten Brunnenanlagen Rajasthans, 8. Jahrhundert n.Chr.
Es ist die eine Zahl, die alles relativiert: 1.2 Milliarden. Gemäss offiziellen Statistiken ist das die Bevölkerungszahl von Indien. Seit wir vor gut zwei Monaten, aus Paris kommend, auf dem Indira Gandhi-Airport gelandet sind, sind es mit Sicherheit ein paar Tausend mehr.
Einschub: In Delhi werden Tag für Tag 1000 Autos neu zugelassen.
Diese 1200.000.000 Menschen lassen alle meine Kommentare, zustimmende und kritisierende, zu nichts werden, weil sie an dieser kaum vorstellbaren Zahl auflaufen, wie die Wellen des Arabischen Meers unten am Strand: Diese mögen zwar im Verlaufe von Jahrhunderten die Küstenlinie etwas verändern, doch schon wenige hundert Meter landeinwärts kümmert das keinen mehr.
Weder gut gemeinte Ratschläge, noch dieses schweizerische „man-könnte-doch-auch“ haben angesichts der Komplexität dieser Menschenansammlung, der vielschichtigen Interaktionen der Massen, des täglich aufs Neue zu überstehenden Chaos, angesichts dieses permanenten Ausnahmezustands schlicht und ergreifend keine Bedeutung.
Das macht frei.
Weil man aufhören kann, sich zu kümmern. Das mag zynisch klingen, aber anders geht das nicht. Kümmern tut man sich dort, wo man sich täglich der „Notstandssimulation“, der „Mangelheuchelei“ (Sloterdijk) hingibt, also bei uns.
Das macht den Blick frei auf das, wie es ist.
Vor zwei Monaten haben wir das Wohlstandstreibhaus „Schweiz“ verlassen und sind in einer nun in jeder Hinsicht völlig anderen Welt gelandet. Allerdings – wir haben unser transportables Komforttreibhaus nie wirklich verlassen.
Das Chaos hier ist deren Realität nicht die unsere. Denn wir sind Träger dieses Plastikdings, Besitzer dieses Sesam-öffne-dich-Chips, haben diese geheim gehaltene Zahlenreihe im Gedächtnis abgespeichert, die uns nach hiesigen Vorstellungen unlimitierten Zugang zu Bargeld eröffnet, zu immer neuen 500er und 1000er Rupee-Noten aus den ATM-Maschinen.
Im Grunde genommen interessiert mich das Indien der staatlichen Tourismusbehörde und der Reiseprospekte nicht. Die vielen Tempel und Paläste haben wir – um in unserer Konsumsprache zu bleiben – als tägliches Überraschungsei erlebt.
Ich bin nach Indien zum Nachdenken gereist. Wir sind nach Indien gereist, um Abstand zu schaffen. Aus purem Luxus also.
Ist Indien eine Reise wert?
Nun, wenn man als Tourist unterwegs ist, wohl eher nicht. Da gibt es angenehmere Reiseländer. Ich meine – da gibt es schon ein paar sehenswerte Bauwerke, allen voran der Taj Mahal. Doch die Realität ist halt die, dass über 90% der Strassen in einem derartig erbärmlichen Zustand sind, dass man für die lächerliche Distanz von 250 Kilometern zwischen sechs und acht Stunden Autofahrt einrechnen muss. Die meisten Bauwerke sind zwar doch recht gut gepflegt, aber was uns auch in Erinnerung bleiben wird, ist dieser Geruch in und vor den meisten Palästen, der Geruch von Urin und Scheisse und dieser süssliche Gestank von Fledermauskot.
Ist Indien eine Reise wert?
Man kann die Frage uneingeschränkt mit Ja beantworten, wenn man eine Reise nach Innen unternehmen will, weil diese alptraumartige, anarchische, gar surreale Kulisse „Indien“ mit nichts aus unserem gewohnten Alltag zu vergleichen ist; man hat keine Chance, in sie einzutauchen, man sieht immer nur die konfuse Oberfläche. Um nicht missverstanden zu werden, ich rede von Nachdenken, von der Auseinandersetzung mit westlichen Philosophen und nicht von östlich inspirierten, spirituellen Gymnastikstunden.
Wenn man so will, haben wir uns in diesen Wochen täglich neuen Irritationen ausgesetzt, bewusst gewählt als Stimulus zur Aktivierung unserer eigenen, westlichen Werte und Normen. Der Ort, von wo aus wir die Welt betrachten, ist die Schnittstelle zwischen analoger und digitaler Welt. Uns unterscheidet, dass wir uns als Individuum begreifen. Im Sinne von Sloterdijk: „Individuum ist, wer den privilegierten Zugang zu sich selbst als Erlebnisbesitzer beansprucht“.
merlinx meint
Und ich dachte immer, nach Indien fahren wäre wie Hinuntersteigen in den Brunnen der Weisheit.
(Ausgeklügeltes Bauwerk, auf dem Kopf stehende, leere Pyramide, phantastisch.)
Ausgetrunken oder vertrocknet?
M.M. meint
Es hat noch Wasser, dieses grünliche Zeugs. Jedoch: die Regenzeit ist vorbei, während der Monsunzeit steigt der Wasserspiegel wieder. Abgesehen davon, das Ding ist ja nicht mehr in Gebrauch.
Gotte meint
bleiben sie am besten in indien. hier herrscht gipfeli-gate, seit die baZ auf der frontseite (!) den missstand der znüniverpflegung der landräte in der finanzdirektion beleuchtet hat!
M.M. meint
Hab’s online mitbekommen…. Ganz schlimm.