Letzte Woche waren wir in London. Es ist etwas mehr als ein Jahr her, seit wir den Winter in der Hauptstadt des United Kingdom verbrachten.
Und die Welt noch in Ordnung war.
Weil die Abstimmung über den Verbleib oder den Austritt aus der Europäischen Union erst ein Dreivierteljahr zurücklag. Drôle de guerre: Das Leben ging weiter, als sei nichts passiert.
Als Theresa May in jenem März, also fast ein Jahr nach der historischen Abstimmung, mit einem Brief die Mitgliedschaft Grossbritanniens aufkündigte, glaubte eine Mehrheit der Briten, was ihnen das politische Führungspersonal in all den Interviews und Diskussionsrunden auftischte: Ein Handelsvertrag mit der EU abzuschliessen, sei das leichteste Unterfangen, seit es Handelsverträge gibt.
Schliesslich müsse man als langjähriges Mitglied nicht allzu viele Details regeln, sondern nur die grossen Linien.
Und überhaupt: Die brauchen uns mehr als wir sie.
Im nicht anzunehmenden schlimmsten Fall könne man den Verhandlungstisch auch verlassen, denn, so die Premierministerin, als sie die goldenen Zeiten von «Global Britain» beschwor, die nach dem Brexit die Briten erwartet: «No deal is better than a bad deal.»
Weil das konservative Establishment sich derart sicher war, der Brexit werde zu einem Spaziergang, leistete es sich erst mal den Luxus von Neuwahlen, statt hurti am Verhandlungstisch in Brüssel Platz zu nehmen. Seither hat May keine eigene Mehrheit mehr im Parlament.
In «unserem» Pub in Putney arbeitet kein einziger EU-Ausländer mehr.
Der Marks Spencer-Laden ist nicht das einzige Geschäft an der High Street, das dichtgemacht hat. Der italienische Kellner in der Pizzeria um die Ecke sagt, er sei zwar erst acht Monate in London, doch er hoffe, auch nächstes Jahr weiterarbeiten zu können.
Eine eben veröffentlichte Studie von KPMG stellt fest, dass sich rund eine Million hoch qualifizierter EU-Bürger ernsthaft mit dem Gedanken beschäftigen, die Insel zu verlassen. Oder dazu bereits Vorbereitungen getroffen haben.
Ist London im August 2018 eine andere Stadt?
Eine seltsame Ruhe vor dem Sturm scheint über der Metropole zu liegen – wobei ich mir bewusst bin, dass das eine Projektion ist. Ich meine das zu spüren, weil sich über den Alltag einer dynamischen Stadt die Brexit-Nachrichten schieben. Und die zeichnen ein unbritisches, nämlich chaotisches Bild.
Wegen der sieben Monate vor dem Austritt erdrückend vielen ungelösten Details.
Zum Beispiel diese Kurbelwelle.
Der Rohling wird in Frankreich geschmiedet und anschliessend in England zur Kurbelwelle gefräst. In München wird sie in den Motor eingefügt, der in Oxford in die Minis eingebaut wird. 2000 Kilometer just in time. Ohne Zollunion ist diese Lieferkette tot. Theresa May sieht die Lösung darin, dass Grossbritannien, zumindest was den Warenverkehr anbelangt, eine Freihandelszone mit der EU bilden soll. Seit Juli ist das die Position der Regierung.
Genauer: eine der vielen politischen Positionen, die keine Mehrheit findet. Weshalb man die Alternativelösungen nicht mehr in einem „soft Brexit“ oder „hard Brexit“ sieht, sondern aufgeschreckt zusieht, wie das Land in einen „mad Brexit“ taumelt.
Am Sonntag machte Michel Barnier, Chefunterhändler der EU, in der FAZ klar, dass ein solches Ansinnen ausser Frage stehe. Damit ist die britische Verhandlungsposition zur Makulatur geworden.
Was man in der Schweiz lernen kann: Die EU geht bei ihren vier Grundpfeilern freier Warenverkehr, freier Kapitalverkehr, freier Dienstleistungsverkehr und freier Personenverkehr keine Kompromisse ein.
Zuerst erschienen in der Basler Zeitung vom 5. September 2018