Schlafstätte in einem Hotel der Luxusklasse
Es gibt sehr viele Missverständnisse zwischen Indern und Europäern. Begriffliche Missverständnisse. Greifen wir eines heraus: das Wohnen. Während für uns „Wohnen“ Rückzug ins Private, Wohlfühlort, Multimediaraum, regenerative Zone, geselliger Ort, „ein Basislager für Expeditionen in die Arbeits- und Erlebniswelt“ (Sloterdijk) bedeutet, versteht ein Inder unter dem Begriff zuallererst „eine geschützte Schlafstätte“.
Schlafzelte beim Bahnhof von Haridwar in Nordindien
Sehen wir einmal von der Elite ab, die auf den Kommerzsendern in TV-Werbespots von Tata, Sony und Schwarzkopf in unseren Wohnausstattungen gezeigt werden, ist für unsere Begriffe und Massstäbe der Unterschied im Ausstattungskomfort von festen Wohnungen und solchen Zelten nicht gewaltig gross. Es ist die Hygiene, die Rechtssicherheit, die Dauerhaftigkeit und die Wetterfestigkeit der Schlafstätte, welche den eigentlichen Unterschied ausmacht.
Schlafhütten in einem Dorf in der Nähe von Jaisalmer, Rajasthan..
In Millionen von Haushalten in Indien ist fliessend Wasser in der Wohnung keine Selbstverständlichkeit. Hingegen hat es überall – auch für die Zeltbewohner entlang der Ausfallstrassen in den Städten – öffentliche Brunnenanlagen mit sauberem Trinkwasser. Während bei uns die Elite das spiessbürgerliche „Wohnzimmer“ durch die trendige „Wohnküche“ als Mittelpunkt der Wohnung ersetzt hat – das Schlafzimmer liegt an der gefühlten Peripherie -, ist im indischen Schlafhaus die Feuerstelle oder der Gaskocher entweder draussen, geschützt im Innenhof (auf dem Land) oder in einer Ecke des Raums, der nachts als Schlafstätte dient.
Kochecke im Innenhof des Hauses eines Kleinbauern
Interessant ist, dass das Primat der Schlaftstätte des Bauernhauses auch für die Innenarchitektur, wenn man von dergleichen überhaupt reden kann, des Stadthauses gilt. Je nach Grösse der Familie, also eigentlich immer, schlafen mehrere Personen in einem Raum, auf dem Fussboden oder oftmals im selben Bett.
Es wundert deshalb nicht, dass sich die männlichen Bewohner und die Kinder vorwiegend zum Essen und zum Schlafen TV-Sehen „zu Hause“ aufhalten. Fährt man durchs Land, sieht man in Dörfern und Städten schon frühmorgens junge Männer herumstehen.
Einschub: Ist man mit einem Driver unterwegs, erspart man sich am besten jeglichen Gedanken über dessen Unterkunft in den Hotels. Sie werden in Gemeinschaftsunterkünften von ziemlich unterschiedlicher Qualität und unterschiedlich vielen Betten untergebracht, manchmal ohne Waschgelegenheit. Die Unterkunft ist für den Fahrer gratis und auch für die Verpflegung muss er nichts bezahlen. Zur Relation: Unser Fahrer besitzt ein 100 Quadratmeter-Haus in einem Aussenbezirk Delhis, Schlafraum für neun Personen.
Kann falsche Vorstellungen erwecken: Blick auf die Innenstadt von Bikaner, Rajasthan.
Man kann darüber spekulieren: Ob es wohl an dieser für unsere Begriffe „Unwohnlichkeit“ der indischen Häuser liegt, dass auch der öffentliche Raum praktisch uneingeschränkt Vehikeln aller Art dient, nur nicht dem Fussgänger. Wir haben mit unseren Parkanlagen „Wohnzimmer“ im öffentlichen Raum geschaffen. Mit der Mediterranisierung unserer Städte bis hoch hinauf nach Schweden erobert sich der Flanierer Stück für Stück Strassenraum zurück.
Parkanlagen, die nicht der nationalen Selbstschau gewidmet sind (India Gate in Delhi zum Beispiel), sondern zum Flanieren, zum entspannten Sein einladen, existieren in Indien nicht. Genau so wenig wie Trottoirs.
Grosszügig zeigen sich einzig die Moslems mit ihren Moscheen, die den Gläubigen, also zweckgerichtet, grosszügige Gebetshöfe zur Verfügung stellen. Oftmals sind das Innenplätze an zentraler Lage für 1000 und mehr Gläubige. Hindutempel folgen demgegenüber der üblichen Wohngewohnheit; auch Götter brauchen wenig Platz und teilen sich diesen zumeist noch mit allerlei anderen.
Es ist dieser völlig andere Wohnbegriff und daraus folgend eine andere Vorstellung von der Nutzung des öffentlichen Raums, der eine Indienreise, anders als sagen wir eine Italienreise, zu einem sehr anstrengenden Unterfangen macht.
Schlafstätte in einem Bauerngehöft in der Nähe von Jaisalmer, Rajasthan