Ich glaube ja nicht nur an den Weihnachtsmann – danke für die netten Rückmeldungen –, sondern bin auch ein der EU durchaus wohlgesinnter Europäer, seit fünfzig Jahren mit einem Schweizer Pass.
Ich bin das, weil ich aus einer Familie stamme, welche das letzte Jahrhundert in all seinen schrecklichen Varianten durchlebt hat: beide Grossväter im 1. Weltkrieg in den Schützengräben gegen die Franzosen um ihre Jugend gebracht, mein Vater im 2. Weltkrieg dito; Mutter mehrere Wochen in Gestapo-Haft und deren Eltern 1943 im KZ Sachsenhausen als aktive Gegner des Regimes hingerichtet.
Ich hatte und habe das Glück und das Privileg, als Angehöriger der dritten Generation in das weltweit grösste Friedensprojekt hineingeboren zu sein. Dafür bin ich dankbar.
Und ich bin stolz darauf, ein Europäer zu sein.
Weil wir das Undenkbare geschafft haben: dass wir uns nicht mehr gegenseitig den Tod wünschen. Mit «wir» meine ich auch die Schweiz, wo ich seit meiner frühesten Kindheit zu Hause bin.
Vor diesem Hintergrund kommt mir die Personenfreizügigkeit wie ein Wunder vor.
Sie ist auch für meine Generation etwas Besonderes, haben wir doch noch vor nicht allzu langer Zeit an Grenzübergängen lange Stunden warten müssen, bis alles kontrolliert und abgestempelt war.
Doch ich bin mir bewusst, dass der europäische Frieden schon in wenigen Jahren Geschichte sein könnte. Die Vernunft als Basis der Demokratie ist ein schwankender Holzsteg über einem dunklen Sumpf.
Klammer: Ich habe mich schon oft gefragt, wie die Online-Kommentatoren die Tage verbringen, an denen sie warten müssen, bis sich ihnen wieder die Gelegenheit bietet, gegen die EU hetzen zu können. Es müssen leidvolle Stunden sein. Klammer zu.
Den letzten Winter haben wir in London verbracht.
Wir sind mit Easyjet hingeflogen, haben die elektronische Passkontrolle genutzt (EU, Norway and Switzerland), das wars. Von da an waren wir aufenthaltsberechtigte Einwohner Londons.
Ich muss sagen, das war ein saugutes Gefühl, als Schweizer ein Europäer wie alle anderen zu sein.
Derzeit leben wir in Rom. Wir sind mit dem Zug hingefahren. Diese sechsstündige Fahrt macht man ja auch nicht alle Tage.
Als Schweizer haben wir ein Recht darauf, hier zu leben.
Wir haben Anrecht auf dieselben Vergünstigungen wie die Einheimischen, können ohne Probleme ein Monatsabo für den ÖV lösen (35 Euro), obwohl wir über keine italienische Steuerversicherungsnummer verfügen.
Und wir können ohne Weiteres für fünf Monate eine Wohnung mieten. Dank der Personenfreizügigkeit.
Wie lange das noch so bleiben wird – ich weiss es nicht.
Was ich aber weiss, ist, dass es in unserem Land – wie in Grossbritannien – jede Menge Leute gibt, die mit simplifizierenden Fantasien gegen das komplexe reale Leben anrennen.
Oder anders gesagt, die meinen, wenn sie der europäischen Idee, der Personenfreizügigkeit und Schengen eine Absage erteilen, es so bleiben wird, wie es bis anhin war.
Sie können sich nicht vorstellen, dass für künftige Drittstaaten-Schweizer neue Hürden für eine Reise nach Italien, Frankreich oder Deutschland errichtet werden könnten.
Doch genau daran arbeitet die EU zur Sicherung ihrer Aussengrenzen.
Wer kein Visum benötigt, also Schweizer, müsste sich vor dem Grenzübertritt online registrieren. In Europa!
Ich wünsche Ihnen einen guten Rutsch ins neue Jahr.
Zuerst erschienen in der Basler Zeitung vom 27. Dezember 2017
G. Koller meint
Das stimmt schon, aber da ist noch die Sache mit dem „sozialen Frieden“ innerhalb der übriggebliebenen national-staatlichen Volksgemeinschaften, der nicht so sehr von „Personenfreizügigkeit und Schengen“, sondern von ökonomischen Zwängen, Faktoren und Entwicklungen lokaler wie globaler Herkunft und Ausmasses abhängt.
Die EU wird wahrscheinlich nicht daran scheitern, weil „Schengen und Freizügigkeit“ in Frage gestellt werden könnten, sondern weil die „Vergemeinschaftung der Schulden“ sich als der strukturelle Fehler herausgestellt hat, von welchem in erster Linie die Banken unter Führung der EZB profitieren, und der sich vor allem zugunsten der stagnierenden, südlichen Länder auswirkt. Deutschland als Bürge – ewig werden sie diese Rolle nicht übernehmen.
Schön, und den primär eigenen Verdienst wird sicher niemand in Abrede stellen, dennoch stellt es eine beneidenswert privilegierte Situation* dar.
Apropos Winterdomizil: Eigentlich hätte man erwartet, dass Paris die Destination sein würde, von wegen Macron, seinen gross-europäischen Träumen und so … 🙂
Allerseits die besten Wünsche fürs Neue Jahr!
(* Mit Verlaub: Von den älteren noch arbeitenden und den bereits Pensionierten wird erwartet, dass sie länger arbeiten sollen, was sie ja auch oft möchten und könnten, aber die „Wirtschaft“ und der Arbeitsmarkt bieten dazu längst nicht in ausreichendem Masse die geeigneten Stellen und Möglichkeiten. Die Kommunen ihrerseits sind noch so froh, wenn diese fitten und vor „altem“ Knowhow strotzenden Rentner gewillt sind, sich in Freiwilligen-Projekte einspannen zu lassen, sprich, Gratisarbeit leisten, und so die Etats der Kommunen entlasten.
Eine problematische, weil unbefriedigende Situation, welche auf der politischen Ebene angepackt werden sollte, denn wenn diese unzähligen, freiwilligen Einsätze schon nicht entlöhnt werden „können“, wäre eine Gutschrift auf steuerlicher Ebene wenigstens ein Zeichen der Anerkennung und Wertschätzung, – nur, die Konsequenz davon wäre, dass der Staat und die Kommunen zum Ausgleich es wagen sollten, die „brummenden“ Bereiche der Wirtschaft – und nicht etwa die Einkommen der einfachen, arbeitenden Bevölkerung, oder die Renten – anders und höher zu besteuern, usw., usf., etc. … soviel als kleiner Beitrag zur Wahrung des „sozialen Friedens“ …)
Arlesheimreloadedfan meint
Alles wahr,aber in der BaZ werfen Sie Perlen vor die Schweine.