Ich kaufe immer mal wieder das Surprise-Stadtmagazin. Gestern wieder von der Frau, die im Sommer das Magazin im Kunsthalle-Garten verkauft. Sie stand gestern Abend oben bei der Rolltreppe im Bahnhof SBB.
Nun wissen wir alle, dass diese Surprise-Verkäufer von ihrer Erscheinung her nicht unbedingt der gängigen Norm entsprechen. Man sieht sofort, die leben nicht auf der Sonnenseite. Ich kaufe das Magazin, um etwas Gutes zu tun, was mir jedoch jedesmal ziemlich peinlich ist.
Das liegt am Inhalt dieses Blattes.
Denn es sollte doch so sein, dass diese Verkäufer etwas anbieten, das ich gerne kaufe. Im Fall von Surprise ein interessantes Blatt. Dann wäre das nicht jedes Mal so eine persönliche Sache zwischen mir und der Verkäuferin.
Doch das ist nicht so, weil Surprise von einer elitär-bonierten Gutmenschenredaktion gemacht wird, die jetzt im Winter, im Unterschied zu den Strassenverkäufern, in geheizten Büros hockt und auch noch ein regelmässiges Gehalt bezieht.
Diese bornierten Redaktionsdeppen sind von der Mission beseelt, dem ihre Sicht der Welt unters abgestumpfte Pendlervolk bringen.
Nicht über den Kioskverkauf, wo sie schon längst kläglich gescheitert wären. Sondern sie besitzen die Dreistigkeit, ihr in der freien Wirtschaft unverkäufliches Geschreibsel über den Mitleidskanal abzusetzen.
Sie gehen dabei von der Mutmassung aus, es gäbe eine selbstverständliche Gesinnungsgemeinschaft zwischen Redaktion und Verkäufer, wenn der Inhalt das Elend der Welt zum Thema hätte.
Wer selbst in Not ist, ist der beste Verkäufer für das andere Elend. Das Bild, das die Verkäuferin abgibt und der Inhalt des Magazins sind deckungsgleich. Super Marketing!
Das ist derart zynisch, dass es einem beinahe die Sprache verschlägt.
Da steht nun also meine Verkäuferin oben auf der SBB-Passerelle, mit abgewetzter Windjacke, Zahnlücke, klobigen Winterschuhen, strähnigen Haaren, verwaschenem Rock und hält dieses Blatt in der Hand und ich lese den Titel: „Wie Schweizer Konzerne die Welt ausbeuten“.
Ich schaue die Verkäuferin an und dann wieder das Titelbild, das ein afrikanisches Kind zeigt, das, so wird sugeriert, von Schweizer Konzernen ausgebeutet wird.
In mir steigt eine die Wut hoch, und ich title: „Wie bornierte Suprise-Redaktoren Randständige ausbeuten“.
Stefan Peter meint
Jeder beackert halt sein Feld. Eine Dreckschleuder beutet ein Feld auf seine Weise aus.
„Wer schaufelt die Erde mit Asche zu – Wer nimmt mir am Tag meine letzte Ruh‘ – Wer drückt jeden Mist in die Hirne rein – Wer muss über alles König sein – Wer stapelt den Dreck im Hinterhof – Wer sagt über alle, ja, die sind doof – Wer kocht sehr adrett einen herben Brei – Wer hat überall seine Sklaven dabei (Blog-Proletariat?)“ (Joachim Witt – DENN ICH BIN SO EINSAM)
P. Herzog meint
Lieber Hr. Messmer, ich denke, Sie sollten weiterhin etwas geniert Suprise kaufen, und wenn Ihnen ein Artikel gefällt, dankbar sein. Die Welt in der Sie leben, ist eine ganz andere als die Langzeitarbeitslosen, die oft kaum eine Hoffnung haben, ein gutes regelmässiges Einkommen zu erhalten. Für sie ist diese Welt, wie sie heute strukturiert ist, etwas, das sie nicht verstehen, und mit welcher sie sich nicht identifizieren können. Wie den auch? Sie können sich ja auch nicht mit der Welt der sozial schwachen identifizieren. Der Inhalt ist entsprechend aufgebaut. Er zeigt die Wahrheiten, die der normale Mittel- bis Hochklässler nicht wahrhaben will. Man findet die selben Inhalte bei der Erklärung von Bern, Amnesty International, und anderen Organisationen, die sich mit der Wahrheit der kleinen Leute hier und vor allem in der dritte Welt identifizieren. Machen Sie doch einmal beim Public Eye Voting für die schlimmste Firma mit. Schauen Sie, welche Umwelt- und sozialen Sünden sehr sehr grosse Firmen immer noch in der dritten Welt täglich begehen. Die Welt, die Sie nicht kennen müssen, oder wollen, enthält eben auch eine Wahrheit, die, wenn man sie täglich anschauen würde, einem den Magen umdrehen würde. Die Surprise Verkäuferin muss eine Lebenssituation runterschlucken, die bei vielen Frauen zu Depressionen, Angstzuständen und Suizidgedanken führen würde. Ich habe die selbe Surprise gekauft, und fand den einen oder anderen Artikel anregend. Ich kaufe Surpirse regelmässig, um meine Zehenspitzen in den Oelschlick zu stecken, für 15 Minuten, um so nicht zu vergessen, dass diese Welt eben auch existiert. Es würde jedem gut tun, die Inhalte des Surprise Magazins ab und zu anzunehmen, um nicht zu vergessen, was Armut und soziale Ausbeutung wirklich ist. Den auf dieser Ausbeutung ist der Reichtum unserer Gesellschaft immer noch teilweise gebaut.
merlinx meint
Als ehemaliger SUPRISE-Mit-Hersteller fällt es mir jetzt nicht leicht, mich nicht ein wenig betroffen zu fühlen … wie auch immer …
Anfangs der neunziger Jahre wurde das Heft – es hiess damals noch „Stempelkissen“ – ausschliesslich von Arbeitslosen geschrieben, gesetzt, gelayoutet, gedruckt, gefaltet, geheftet – und wenn noch genug Energie und Courage vorhanden war, auf der Strasse verkauft, zB vor den Werktoren der Roche, nicht gerade mit sehr grossem Erfolg … (alles ein bisschen chaotisch, in guter Atmosphäre, zu der Zeit wurde indoor noch geraucht …)
Aber es gab ja noch einen ansehnlichen Stamm an Abonnenten und genug Spenden.
Dabei lernte ich QuarkXPress kennen … und die ganze Adobe-Suite … ein perfekter Übungsplatz.
Dann fand ich wieder Arbeit.
Gegen Ende der Neunziger Jahre wurde das ganze Projekt grundlegend geändert, Konzept, Trägerschaft, Inhalt und Erscheinungsbild, alles neu. Das war nach „meiner Zeit“ …
Seither habe ich die Entwicklung des Strassenmagazins ganz am Rande mitverfolgt, manchmal kaufe ich es, ähnlich wie Sie, – eigentlich nur aus Solidarität zu den Verkäufern, manchmal lese ich es auch noch …
Ich kann eine gewisse Skepsis dem Ganzen gegenüber auch nicht verleugnen, – obwohl es im Gegensatz zu früher ein ziemlich erfolgreiches Unternehmen geworden ist, in jeder Hinsicht.
Wohl zum grössten Teil durch beträchtliche Spenden finanziert; ein paar Vollzeit- und viele Teilzeit-Stellen geschaffen, und Randständigen wird ein, ja, wie soll man das jetzt korrekt bezeichnen? Jedenfalls sie gehen nicht leer aus, fifty-fifty pro Heft, und sie gehören unterdessen zum Strassenbild, sind akzeptiert. Asylbewerber dürfen leider nicht mehr verkaufen. Unverständlich!
Woher dann diese Skepsis? Kann über Schei*** nur authentisch berichten, wer selber mal drinnen steckte? Oder bete ich jetzt auch das neo-liberale Credo „Jeder ist seines eigenen Glückes Schmid“ nach?
Würden Sie den Auftritt als weniger zynisch empfinden, wenn die Verkäufer/innen vorher zurechtgemacht würden, aufgehübscht, oder in Uniformen gesteckt, so à la Heilsarmee oder McDonalds oder piccolo vor dem Drei König?
Und inhaltlich ist das Heft ja sowieso auf der Linie der „Erklärung von Bern“, WoZ, etc., also so ein linkes Stänkererblättchen, Leute, die nur auf Umverteilung aus sind – meinen Sie das?
Mehr Berichte aus dem Paradies würde das Ganze etwas aufheitern, sicher.
Das ganze Konzept ist ja dem grossen Vorbild „The Big Issue“ nachempfunden, London Ende der achtziger Jahre. Nach mehr als zwanzig Jahren sollte man vielleicht was Neues ausprobieren.
Vielleicht wären gerade Sie der richtige Gesprächspartner für ein Brainstorming mit diesen „bornierten Redaktionsdeppen“ …
… und zuerst mal ein SURPRISE-App lancieren … ein unangenehmes Gefühl weniger, keine Peinlichkeit mehr …
M.M. meint
Es geht mir um den Inhalt, der mit dem Vertriebskanal verknüpft wird, respektive ohne diesen Vertriebskanal gäbe es diesen Inhalt nicht.
Könnte ja auch ein toll gemachtes Kochrezept-Blättchen sein, um da noch kurz den Ärger der Linken abzuholen.
merlinx meint
Ränder fransen aus, ausser man fasst sie mit bunten Seidenbändel … eine alte Basler Erfindung …
Tilman Haerdle meint
Lieber Manfred,
da wundere ich mich jetzt. Du reihst Dich am SBB ins Pendlervolk ein, bist Du auch abgestumpft? Sind da nicht auch Leser Deines Blogs drunter? Sind die dann auch abgestumpft?
Ausserdem frage ich mich, ob Du den den betreffenden Artikel in der Surprise (mit 2 r, übrigens, nicht Suprise) auch gelesen hast. Würde die Qualität Deiner Kritik sicher anheben, meinst Du nicht. So denke ich dann eher an Deine spitze Bemerkung zu den Hildebrand-Kontoauszügen, die dummerweise auch nicht genau genug angesehen wurden.
Apropos: Suggeriert schreibt sich auch mit 2 g.
Verzeih mir, dass ich hier auf derart vielen Oberflächlichkeiten herumhacke. Doch Dein Artikel bleibt leider so sehr an der Oberfläche. Und gerade beim Thema „Obdachlosenzeitungen“ lohnt es, sich tiefer mit der Materie zu befassen. Die Obdachlosen jedenfalls, die in München die BISS verkaufen, sind erkennbar froh, diesen Job zu haben. Weil er ihre Situation stabilisiert und oftmals ein Sprungbrett zu einer Beschäftigung in einem geheizten Büro darstellt, das man dann als abgestumpfter Pendler ansteuern kann. Muss ich jetzt noch extra fragen, wer hier borniert ist?
Mit besten Grüssen,
Dein Tilman
M.M. meint
Danke fürs „r“. Ich gönne den Verkäufern den Job. Ich denke, denen ist es ziemlich egal, welchen Inhalt sie da verkaufen. In Basel könnten die ja die TagesWoche verkaufen.
Warum meint man immer, was gut ist, muss sich mit dem Elend der Welt auseinandersetzen?
Bin übrigens kein Pendler. Die lesen sowieso 20min.
Tilman meint
Wie Merlinx ja schrieb, ist es ein Ansatz, dass sich diese Blätter mit den Erfahrungswelten der Obdachlosen auseinandersetzen. Kanal und Inhalt ergänzen sich notwendigerweise. Kochrezepte kommen da halt nur am Rande vor.
Und ob es den Verkäufern egal ist, welchen Inhalt sie verkaufen – hast Du die jemals gefragt? Oder nur übers Wetter geredet?
Ich bin definitiv kein Gutmensch, aber wäre es nicht nett, wenn man schon so ein Thema anfasst, es fundiert zu tun? Zu Hildebrand oder zu den Wahlen gab es doch auch Dutzende Artikel, dabei sind das doch eigentlich Boulevard-Themen. Hildebrand war der schweizer Wulff mit Rückgrat, eine Sau, die durchs Dorf getrieben wurde (wenn auch von Dir gut kommentiert). Und die Wahlen, mei, da war doch schon explizit zu lesen, dass Du die eigentlich nicht ernst nimmst.