Ja, ich denke, Corona war gar nicht so schlecht. Gut zwei Jahre hatten wir die Gelegenheit, den Ausnahmezustand zu üben.
Also etwas, dass wir nur noch vom Hörensagen kannten.
Corona war eine Art Testlauf, in Sachen Anpassungsfähigkeit an eine völlig neue Herausforderung.
Die beiden Corona-Jahre können wir jetzt, im Nachhinein, als Testlauf einordnen, für das, was uns mit dem Ukraine-Krieg bevorsteht.
Ein Testzläuflein, weil die Schweizer den Diminutiv über alles lieben.
Ohne schwarzzumalen: Der Ukraine-Krieg wird uns einiges mehr an Ausnahmezustand bringen, als Corona.
Er markiert das Ende der Vernunft.
Der Wettstreit der Systeme wird nicht mehr am Verhandlungstisch ausgetragen, sondern mit Panzern und Artilleriegeschützen draussen auf dem Feld.
In Europa.
Was die meisten noch gar nicht fassen können oder nicht wollen.
So wie es derzeit aussieht, sind die Westeuropäer nicht bereit, ihre Freiheit über schöne Worte hinaus zu verteidigen.
Die Stimmung ist vielmehr so, dass man Putin die Krim und die Ostgebiete der Ukraine überlassen will, im Tausch gegen das frühere Gleichgewicht des Schwebens, wo man vieles, was ausgesprochen unangenehm ist, im Ungefähren bleiben lassen kann.
Schliesslich wollen wir jetzt den Sommer geniessen.
Dann kriegen wir die Inflation in den Griff, regeln in Ruhe die Öl- und Gasimporte neu, kaufen einen neuen Corona-Impfstoff ein.
Und fliegen in die Ferien.
Was aber, wenn Putin das wirklich ernst meint, mit der Vernichtung der Ukraine, wenn danach die baltischen Staaten dran sind und Moldavien?
Was, wenn die Inflation so hoch wie gegenwärtig auch den Winter über bleibt, was in unseren Nachbarstaaten zu heftigen sozialen Verwerfungen führen wird?
Was, wenn Boris Johnson um seine Haut zu retten, wegen Nordirland einen Handelskrieg mit der EU vom Zaun bricht?
Was, wenn die chinesische Regierung wegen Corona unter Druck gerät und zur Ablenkung Taiwan überfällt?
Was, wenn es nicht gelingt, Trump juristisch zu erledigen und er erneut zur Präsidentschaftswahl antritt?
Was, wenn Erdogan Griechenland wegen diesen läppischen Inseln überfällt.
Was, wenn der Bundesrat auch im Herbst noch nicht weiss, wie er es denn jetzt mit der EU halten will?
Was dann?
Dann haben wir ein echtes Problem.
Und keine passenden Antworten.
Rampass meint
Genau, geniessen „wir“ den Sommer. Da besteht noch etwas Einflussmöglichkeit.
Natürlich versucht der Westen, die Freiheit zu verteidigen, wenn auch nur indirekt. Sonst würde er nicht massiv Waffen und Geld à fonds perdu in die Ukraine liefern.
Die Zustände haben wir den Politikern zu verdanken. Die meisten sind noch im Amt, Merkel ausgenommen. Mit Trump am Ruder sähe die Situation anders aus.
Das Thema Schweiz-EU langweilt. Die Wegwerflösung „Stromabkommen“ hat sich gerade selbst erledigt. Wenn der Weltmeister der erneuerbaren Energie Deutschland plötzlich im Winter Schweizer Strom beziehen will, dann stimmt was gewaltig nicht. Einmal mehr waren’s die Politiker: zuerst AKW abstellen und dann schauen, wie’s weitergehen soll. Da plant jede Hausfrau besser.
Chiebäsebärto meint
Gibt es eigentlich noch Hausfrauen?
Arlesheimreloadedfan meint
Versuchte mir Frau Rampass vorzustellen.
Vor meinem geistigen Auge sass sie im deutschen Supermarkt auf dem Kassenband.Weil ihr die Kassenfrau nicht 4 Grosspackungen WC-Papier verkaufte.
Eben eine richtige Stauffacherin.
Marc Schinzel meint
Genau so! Viele bei uns realisieren immer noch nicht, wie verheerend der Schnitt ist, den Putin mit seinem Angriffskrieg gesetzt hat. Die Ukraine ist für viele irgendein Steppenland. Den Namen der Hauptstadt lernte man mal in der Schule. Zertrümmert wird dort aber gerade eine über 50 Jahre hinweg aufgebaute, gesamteuropäische Sicherheitsordnung, die auf die (deutschen) Ostverträge und die KSZE-Schlussakte von Helsinki 1975 zurückgeht. Ginge es Putin um die sogenannte NATO-Osterweiterung, könnte man noch von einer – völlig falschen – Logik reden. Putins völkisch-imperialistisches “Russland holt jetzt das zurück, was ihm historisch zusteht“, ist jedoch ein barbarischer Rückfall in die Zeit vor 1945. In den soeben zu Ende gegangenen Wenkenhof-Gespächen meinte Roger de Weck, er sei optimistisch, denn die autoritären und populistischen Strömungen würden überall zurückgedrängt. Welchen Film schaut er? Marine Le Pens 41% in der Stichwahl zur französischen Präsidentschaft, Chinas immer aggressiveres Auftreten und die Möglichkeit, dass derjenige, der zum Glück nicht mehr im Oval Office sitzt, wiedergewählt werden könnte, womit er die westliche Allianz im Konflikt mit Putin anführen müsste, weisen auf anderes hin. Wir können die von Putin ausgelöste Zeitenwende nicht genug ernst nehmen.
Heidi Schiess meint
Das sind die Fragen, die ich mir auch schon länger stelle.
Zu allem Ûbel verliere ich wohl gleichzeitig und ausgerechnet jetzt den Glauben an die Parteien und die Macht der Politik.
Vielen Dank für diese in Wort gefassten Überlegungen.
Heidi Schiess