Möglich, dass ich dieses Mal zur Mehrheit gehöre, zur Mehrheit der Nichtwähler. Weil es – anders als behauptet wird – keine Rolle spielt, ob ich nun auch noch eine der nicht mehr überschaubar vielen Wahllisten einwerfe oder nicht. Selbst wenn alle ihr Couvert abgäben, das Resultat bliebe dasselbe.
Vor vier Jahren waren es in Basel-Stadt und in Baselland gut die Hälfte der Wahlberechtigten, die es mit Bartleby dem Schreiber hielten und mit der Bemerkung «Ich möchte lieber nicht» das Wahlcouvert samt Inhalt ins Altpapier warfen.
Man ist schliesslich umweltbewusst.
Indes, man kann von mir nun wirklich nicht behaupten, ich interessierte mich nicht für Politik. Und ich kann gleich noch hinzufügen, dass ich seit den 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts keine Wahl verpasst und auch bei den meisten Abstimmungen mitgemacht habe. Die Ausnahme von der Regel trat höchstens ein, wenn ich mal weg war. Nein, insofern bin ich ein guter Citoyen und war bis anhin fürs bürgerliche Lager und deren Anliegen immer ein leicht berechenbarer Stimmenbringer. Aber dieses Mal ist alles anders.
Schon im Frühling stellte sich ein unangenehmer Gefühlszustand ein, der, vom Solarplexus ausgehend, die Wirbelsäule hochsteigt und sich in jener Hirnregion einnistet, von wo aus die Emotionen gesteuert werden. Man könnte ihn am besten mit «Widerwillen» umschreiben. Starker Widerwillen. Und wie die Wochen so ins Land gingen, waren es nicht mehr nur wie zu Beginn die längeren Meldungen und Hintergrundberichte, welche diesen wirklich unangenehmen emotionalen Reflex auslösten, nein, jetzt im September sind es selbst kleinere, im Grunde genommen völlig unbedeutende Agenturmeldungen, die Welle um Welle an Widerwillen hochschwappen lassen.
Ich hätte ja alles Verständnis der Welt, wenn die geneigte Leserschaft dies mit dem Rat abtäte, ich solle doch einen Arzt aufsuchen, am besten mich an einen der rund zweihundert in Basel praktizierenden Psychiater wenden. Schliesslich sei das halt so in einer Demokratie, dass während Wahlzeiten ausführlich über Kandidaten, Parteiprogramme, Politaktionen, Podiumsdiskussionen und dergleichen berichtet werde.
Doch so einfach kann man mich nicht in die Beklopptenecke stellen. Denn ich stelle fest, dass ich nicht allein bin. Weil, da gibt es – völlig unbeachtet von den Medien – im politischen Hintergrund eine informelle «Vereinigung der Anonymen Politjunkies», wo man sich die eigene Politikverdrossenheit von der Seele redet. Am Telefon, bei Einladungen, beim Businesslunch. Citoyens, die alle ähnliche Symptome beklagen und diese nicht mehr verdrängen, sondern offen auszusprechen wagen. Jedenfalls habe ich bis jetzt noch niemanden getroffen, der oder die sich von den Plakatpolitikern, die den Hauptverbindungsachsen entlang von den Beleuchtungsmasten herunter den Pendlerverkehr zugrinsen (analog zu «zumüllen»), nicht belästigt fühlt.
Mit Ausnahme von Leuten, die selbst auf Plakaten ihren Zahnstand entblössen.
Ich muss vielleicht noch hinzufügen, dass mir der Gedanke, das Wahlcouvert in den Altpapierstapler zu legen, nicht mal mehr ein schlechtes Gewissen bereitet. Wenn ich mir als selbstbewusster Citoyen die Freiheit nehme, diesen Selbstdarstellerjahrmarkt zu ignorieren, dann tue ich das im Wissen, dass es keine Rolle spielt, ob nun dieser oder jene ab Oktober nach Bern fährt. Das Resultat bleibt dasselbe.
Zuerst erschienen in der Basler Zeitung vom 30. September 2015
Nemesis meint
«… dann tue ich das im Wissen, dass es keine Rolle spielt, ob nun dieser oder jene ab Oktober nach Bern fährt. Das Resultat bleibt dasselbe.» Dieser Vorstellung halte ich einen Satz entgegen, mit dem ein ehemaliger Landrat mal den Seufzer «warum tun wir uns das an?» (sich in diesem Betrieb aufreiben) beantwortet hat: «Damit nicht noch mehr Drittklasspolitiker über uns bestimmen!» – Bingo, also wählen gehen, damit’s nicht noch schlimmer kommt! Auch Sie, missmutiger MM (Kürzel passt zweifach…). Damit Sie’s nicht so schwer haben, empfehle ich folgendes Vorgehen, das den besten Kandidaten auf den jeweiligen Parteilisten zugute kommt:
Freie Liste zur Hand nehmen, je zweimal die Nummern/Namen
03.06 Hanspeter Weibel
05.03 Remo Franz
07.01 Maya Graf
draufschreiben. Letzte Linie nach Belieben mit einer andere Person füllen oder leerlassen und Liste mit einer Nummer zu einer Parteiliste machen, dann zählt die leere Linie als Stimme für die entsprechende Partei. Aber nicht «nicht wählen» und hinterher beklagen, dass wieder nur Drittklasspolitiker nach Bern delegiert wurden!
M.M. meint
Ist ja reichlich naiv, was Sie da schreiben. Wobei, das glauben ja die meisten.
Tatsache ist, dass wenn ich beispielsweise den Herrn Dürr von der FDP wählen täte, dieser ganz sicher nicht gewählt wird aber in der dritten Verteilungsrunde beispielsweise die Frau Sollberger oder die Frau Mall von der SVP.
Zu deren Wahl will ich nun wirklich keinen Beitrag leisten.
Ich mache dann wieder mit, wenn der Listenverbindungsbetrug abgeschafft wird.
G. Koller meint
Im Gegenteil, unser Regierungssystem ist so gut, dass es ohne Probleme erträgt, wenn die Hälfte der Wähler/innen sich verweigert oder nicht interessiert.
Wahlen bedeutet, die Wenigen zu bestimmen, die sich gerne um die Vielen „kümmern“ möchten, die zu wenig zu sagen haben.
In diesem Sinne mehr Frauen und Unter-Vierzigjährige wählen!
(Übrigens, gutes Bild eines zur-chaneh. Als ich vor vielen Jahren dort war, wurden die schweren Holzkeulen noch mit nacktem Oberkörper geschwungen.
Inzwischen gehören diese rituellen Übungen auch zum immateriellen UNESCO-Kulturerbe.
So wie vielleicht auch bald einmal unser Schwingen und Hornussen, oder unser Panaschieren und Kumulieren …)
Grummel meint
Wollte eigentlich den Janiak wählen (damit «der Buser» seinen Stellenwert erkennt).
Habe aber darauf verzichtet, weil selbst diese eine Stimme die Wahlbeteiligung in die Höhe treibt (und ich möchte nicht, dass einer der «Gewählten» behaupten kann, «das Volk» habe ihn gewählt)
Soweit haben sie es gebracht. Aber vermutlich ist das durchaus in deren Sinn.
Beat Hermann meint
Ich sagte mir, jetzt erst recht! Parteiliste ja, aber ohne die Heulsause aus Thürnen und den Kleingewerbepräsidenten. Unnütz, aber Protest muss sein. C. Janiak vertritt auch mit rotem Parteibuch zuerst das Baselbiet. Seine Wiederwahl scheint mir wichtiger als der Protest durch Verweigerung der Wahlbeteiligung.
Siro meint
auch micht schaudert es, wenn ich die (mir meist wohlbekannten) köpfe sehe, welche sich befähigt fühlen, unser land zu führen, aber selbst in der kantonalen politik überfordert sind oder auch sonst keine weitergehenden (persönlichen, intelektuellen, kreativen etc.) qualitäten haben. der anspruch an politische ämter ist mittlerweile dermassen tief, dass die frage nach der befähigung nicht mehr gestellt wird. im übrigen möchte ich mich da selbst auch nicht ausnehmen, bin ich doch damals selbst als youngster in den betrieb eingestiegen und konnte mit ausnahme einer gewissen unabhänigkeit wenig bieten.
politische ämter für gute leute wieder echt attraktiv zu machen ist m. E. leider paraktisch unmöglich geworden, weil die amtsinhaber gar nicht erkennen können und wollen, dass sie selbst das problem sind. z. b. wer möchte/kann heute schon landrat werden, wenn sich dieses gremium an knapp 25 (sic!) arbeitstagen trifft um vornehmlich geschäfte zu besprechen, die nichts mit der eigentlichen kompetenz von gesetzgebung, budget und oberaufsicht zu tun haben? es liegt in der natur der sache, dass die mehrheit der amtsinhaber darin kein problem sieht, das es zu ändern gibt. jene die aussteigen oder gar nie erst kandidiert haben, können keinen einfluss nehmen.
ganz hoffnungslos ist es nicht, denn immerhin kenne ich für diese wahlen einige echt gute leute, die meine stimme auch bekommen. die freisinnigen haben es zu meinem erstaunen geschaft, wirklich einige gute leute auf die liste zu bekommen. diese leute können frei denken, erörtern und argumentieren und haben auch ausserhalb der politik etwas erreicht. für alle die jemanden aus der svp wählen wollen: hanspeter weibel ist m. E. ein legislativ-politiker, der eine bereicherung für ein solches gremium ist, weil er sehr unbequem sein kann und sich nichts vormachen lässt.
Nemesis meint
Brutal zutreffende Analyse. Und die Nachwuchshoffnungen geben auf, wenn sie sich einige Jahre daran gerieben haben und erkennen müssen, dass ein paar fähige Köpfe daran nichts zu ändern vermögen – wie Beispiel Siro zeigt…
In einer Wahlempfehlung finden wir uns deckungsgleich – mit Nationalratskandidat Nr. 03.06 – Hanspeter Weibel. Schiesst immer mal wieder übers Ziel hinaus, das erweist sich im schwerfälligen Politbetrieb aber oft als nötiger Anstoss, damit etwas in Bewegung kommt. Weibel wirkt.
Alex Schneider meint
SVP wählen, auch contre coeur!
Jedermann und jede Frau hat sein/ihr ideales Parteiprogramm im Kopf und im Bauch. Leider sind die bestehenden vielen Parteien auch beim besten Willen nicht in der Lage, diesen vielen Parteiprogrammen gerecht zu werden. So kommt es denn, dass kein Volksvertreter und keine Volksvertreterin in den Parlamenten und Exekutiven meinem eigenen Parteiprogramm zu 100% gerecht werden können. Darum kann man auch bei Wahlen kumulieren und panaschieren. Aber am besten kommen dem Volk in diesem Dilemma die Volksinitiative und das Referendum entgegen. Dort kann man im sachpolitischen Einzelfall seinen persönlichen Prioritäten folgen. Das Ergreifen von Volksinitiativen oder Referenden herablassend als Populismus zu bezeichnen, ist eine Diffamierung des Volkes und indirekt eine Überhöhung des politischen Sachverstandes der gewählten Volksvertreter und Volksvertreterinnen.
Bei Wahlen frage ich mich immer, welche politischen Themen welches Gewicht haben und welche Parteien und welche Politiker/-innen welche Haltung zu den gewichtigsten Themen einnehmen und wie gross der Stellenwert dieser Themen bei den jeweiligen Parteien und Politiker/-innen ist. Es gibt nämlich viele Parteien und Politiker/-innen, die sich vorwiegend um Randthemen oder klar mehrheitsfähige Themen kümmern (z. B. Unterstützung von IV und AHV, Frauenförderung, Bekämpfung von Littering, Tierschutz, Opferschutz). Sie scheuen sich davor, eindeutig und wiederholt Stellung zu nehmen zu den heiss umstrittenen „grossen“ Themen wie Haltung der Schweiz zur EU oder zu Migrationsfragen. Nur wer sich bei diesen „grossen“ Fragen eindeutig in meinem Sinne positioniert, kann mit meiner Stimme rechnen.
Was heisst das konkret für die nationalen Wahlen 2015? Die Verteidigung der Souveränität der Schweiz ist für uns von existenzieller Bedeutung. Wenn wir die aufgeben, können wir diesen Entscheid kaum mehr rückgängig machen. Daher ist es wichtig, heute jene Parteien zu unterstützen, die sich vorbehaltlos für die Aufrechterhaltung unserer Souveränität einsetzen. Leider hat von diesen Parteien nur die SVP reale Wahlchancen.
Sozial- und umweltpolitische Fortschritte können jederzeit mit Initiativen und Referenden erkämpft werden. Korrekturen einer fehlgeleiteten Europapolitik wären weit schwieriger.
Beat Hermann meint
Soso, die Haltung der Schweiz zur EU sei ein GROSSES Thema, ebenso wie die Migrationsfrage. Wirklich? Woher nehmen Sie diese Gewissheit? …. nebenbei: haben Sie in der NZZ den Beitrag von Sloterdjik zum digitalen Kolonianismus der Amis (Holocaustgelder, Raoul Weil etc.) gelesen? …… ich meine gefühlt wird uns die nationalkonservatie Mantra seit Jahrzehnten von der Partei mit den grünen Farben aufgezwungen, aber wirklich? Sie haben diese Gewissheit, nach ernsthaftem Nachdenken, beim Betrachten unserer Situation und Lage aus verschiedensten Gesichtswinkeln, wirtschaftlich, demographisch, kulturell (wirklich kulturell ……….. ohne Beatrice Egli), sozialpolitisch, geographisch, unter Berücksichtigung der Entwicklung der Technologien (unter Einschluss von Pharma), nach unvoreingenommener Analyse unserer Geschichte, von Augusta Raurica, über die Integration des Aargau in die Eidgenossenschaft, die Helvetik und bis 1848 ……… Herr Schneider, wohlan, aber es gibt Wichtigeres als den Stauffacher, der übrigens von einem Deutschen erfunden wurde.