Diese Medienkonferenz gestern in Zürich war vorläufig die letzte. Heute ist Tag 1 meines neuen Daseins.
Ich feiere meinen ganz persönlichen Independence Day.
Es hat sich sehr glücklich eines zum anderen gefügt, sodass die schon vor zwei Jahren auf den 4. Juli 2012 anvisierte grosse Pause in Angriff genommen werden kann.
Ich bin jetzt 63 also im besten Alter mich auf die den Babyboomer geschenkten 10 bis 15 Jahre mit Lust und Neugierde einzulassen. Denn Alt im Sinne unserer Grossväter ist man heute, wenn’s gut geht, mit Mitte siebzig.
Ich habe in den letzten Monaten mit einigen Leuten geredet, die schon seit zwei, drei Jahren in Pension sind, habe vieles dazu gelesen, auch Bücher. Mich interessiert, welche Entwürfe gelebt werden. Man könnte ja die Erfahrungen anderer ausbeuten.
Doch was mich bei all diesen Gesprächen erstaunt hat, ist die depressive Stimmung, die sich bei vielen wie Schimmel um die Pensionierung legt. Die ersten drei Jahre waren ganz schlimm, sagte mir kürzlich ein Radiojournalist, der mit 62 in SRF-Zwangspension ging – bei vollen Bezügen. Für einen Freischaffenden wie mich sind das geradezu paradiesische Verhältnisse.
Und ein anderer, früher Leiter einer mittelständischen Unternehmung, ebenfalls mit 62, allerdings freiwillig frühpensioniert und jetzt 69: Eigentlich geht es mir erst jetzt so langsam gut.
Obwohl ich es nicht verstehe, habe ich ein gewisses Verständnis für dessen Situation. Da ist man gestern noch der grosse Zampano und schon heute kräht kein Hahn mehr nach einem. Was mich übrigens auch immer wieder amüsiert, ist dieser Begriff „Ferien“, welche die Pensionierten noch immer gebrauchen. „Wir waren in den Ferien auf einem Kreuzfahrtschiff.“
Das ist das Elend des zeitgenössischen Pensionistenbildes in einem Satz auf den Punkt gebracht.
Ich denke, man muss die Sache anders angehen. Man muss sich auf eine völlig neue Sache einlassen. Was mir dabei gefällt, weil es meinem bisherigen Lebensweg entspricht: Es gibt für die Babyboomer kein Vorbild. Wir müssen das Alter neu erfinden.
Ich bin es gewohnt, in neuen Bahnen zu denken. Ich habe in den letzten 27 Berufsjahren nichts anderes getan, habe mich Tag für Tag mit Dingen auseinandergesetzt. Von den meisten Themena hatte ich zuvor keine Ahnung, dass es sie überhaupt gibt.
Heute ist Independence Day.
All die teuren Anzüge, Jacketts, Hemden und Hosen sind in die Kleidersammlung gewandert. Die Bürokampfklamotten haben ausgedient.
Stattdessen habe ich mir kürzlich drei Hemden bei H&M gekauft, für unglaubliche 17 Franken das Stück. Das ist so eine Art private Deflation, schliesslich habe ich bisher keine Hemden unter hundert Franken getragen. Und für Anzüge und dergleichen ging in den letzten zwanzig Jahren ein kleines Vermögen drauf.
Kürzlich, an einer Carte-Blanche-Diskussion mit Nachwuchsjournalisten, habe ich nebenbei bemerkt, dass meine beste Entscheidung gewesen sei, mit 36, (oh – die Zahl passt zur obigen), aus dem Journalismus auszusteigen. So rein einkommensmässig. In der Public Relations wird journalistisches Know-how und Schreibtalent einfach viel besser bezahlt.
Heute ist Independence Day.
Ich nehme den Faden dort wieder auf, wo ich ihn liegen liess, als wir eine Familie gründeten und uns später in die Selbstständigkeit verabschiedeten: Vier Kinder, viele Mitarbeiter, tolle Mandate, manchmal finanziell dicht am Abgrund – welch ereignisreiche Jahre!
Ich knüpfe an diese gut zehn Jahre zwischen 19 und 30 an, diese Zeit des staunenden Entdeckens. Um einen Begriff aus jener fernen Zeit neu aufleben zu lassen: Ich steige aus.
Ja, heute ist Tag 1 der neuen Zeitrechnung, heute ist Independence Day.
PS: Der Blog wird weitergeführt – ich kann ja nichts ausser ein wenig schreiben. Allerdings werden die Themen anders werden. Weniger verballmert, mehr aus dem richtigen Leben (eines Müssiggängers).
cato meint
MM macht also in Zukunft nicht „nichts“, wie er vor kurzem angekündigt hat, sondern bloggt weiter, was ich positiv finde. Wohin die Reise im Ruhestand geht, weiss er allerdings noch nicht. Sein Beitrag zum Tag 1 gefällt sich vor allem in etwas eitlen Selbstbetrachtungen; bis zu einem „otium cum dignitate“ (Zitat Ciceros, der unter anderem auch eine Trauerrede für seinen Freund Cato verfasst hat) ist da noch ein weiterer Weg. Viel Glück jedenfalls!
Andreas meint
Glückauf!! Und bitte ja nicht mit bloggen aufhören!
Blacky meint
Willkommen, lieber M.M., im Club. Habe gestern – als ku70 – meine letzte (?) Abgangsvereinbarung unterschrieben (als honorierter und honorabler Müssiggänger). Ob ich doch nochmals eine Rolle spiele, wie M.M. einmal boshaft geschrieben hat? Sicher nicht im Hawaii-Hemd von H&M…
merlinx meint
Man beneidet Sie leidlich.
Ja, das mit der depressiven Stimmung hat mich zB berührt, als ich am vergangenen Freitagabend durch das Summerblues-Festival im Klein-Basel schlenderte, nur eine Stunde lang noch vor Sonnenuntergang; das scheint nun auch so ein Anlass für pensionierte „glatti Sieche“ zu werden wie das jazzige Pendant Mitte August auf der andern Seite des Rheins, – vielleicht noch nicht so sehr im Blick (und Ohr) auf die Musiker, sondern vielmehr auf das Publikum.
Überall in die Jahre gekommene Leute, leicht Erstarrte, im Lebensk(r)ampf Erschöpfte, – wie Kreisel, die zu Tanzen und Schwanken anfangen, bevor sie umkippen, – aber dazu passt doch ein schwerfälliger swamp blues wieder hervorragend …
Nun, das scheint ja eine Kunst zu sein, dem sich im Alter „noch“ Amüsierenkönnen und -wollen geziemend Ausdruck zu geben …
Also, wir warten gespannt auf Ihre Berichte aus dem nächsten Akt, dem der vielzitierten Heiterkeit des Alters (oder ist das auch nur so ein Topos aus einer klassischen Phantomzeit?)
Und erzählen Sie uns bitte, wenn Sie das Elixier der Glückseligkeit gefunden haben, oder den Stein der Weisen.
Und der Pfad in den Wald, wo die Blaue Blume wächst, scheint ja auch nicht ganz vergessen worden zu sein …
(* Zum Glück gibt es mittendrinn ja noch das Floss, zwar auch eine Plattform für singende Dinosaurier, aber sonst ein recht frisches line up, – da freuen sich sehr viel Junge, – und ärgern sich immer wieder einige Alte …)
M.M. meint
Den Gipfel erreichen die Rentnerveranstaltungen mit em Bebby sy Jazz, eine Art Occupy Innerstadt-Bewegung. War vor zwei Jahren mal wieder (rein zufällig) vor Ort. Grässlich.
Ich will mich übrigens nicht zu Tode amüsieren, im Wortsinn und in Anlehnung an Neil Postman.
Gotte meint
lieber mm, erst mal gratulation zu ihrer neuen unabhängigkeit. ich bin froh, dass sie das bloggen noch nicht sein lassen wollen. ich bin keine baby-boomerin, bin eine generation jünger und muss schmunzeln, wenn ich lese, dass sie gedenken, das alter neu zu erfinden und sich nicht in die schemata pressen lassen wollen. damit passen sie nämlich am besten in das schema ihrer generation. sie verkörpern damit das erbe, mit dem meine generation zuweilen kämpft: der zwang zum individualismus. huch, denkt sich der liberale, zwang zum individualismus? ja, zwang, individuell zu sein, sich nicht in schemen zu pressen und das, was vermeintlich vorgegeben ist, nicht als vorgegeben zu akzeptieren. daran ist ja eigentlich nichts auszusetzen, könnte man meinen. und dennoch grassiert leere, depression und burn-out nicht zuletzt deshalb, weil es eben doch dinge gibt, die dem gestaltungswillen des einzelnen entzogen sind. zum beispiel geburt, alter und tod. so leben wir heute im paradox, dass wir gerade jene momente für besonders individuell halten und sie besonders individuell gestalten wollen, die eigentlich vorgegeben sind; momente, die zum mensch-sein gehören und deshalb gerade nicht individuell sind. ich wünsche ihnen deshalb nicht nur den abgedroschenen unruhe-stand, sondern vielmehr gelassenheit. gelassenheit, dass sie in ihrem alter manchmal auch sein dürfen, wie andere in ihrem alter.
M.M. meint
Ich unterscheide schon zwischen Individualismus und Einzelgängertum oder noch schlimmer: Eigenbrötelei. Letztere liegen mir ziemlich fern. Das Problem – es gibt derzeit kein Kollektiv, (eigentlich gab es das nie für mich), dem ich mich anschliessen möchte.
Abgesehen davon: ich bin Teil einer ganz tollen Familie, einer Gemeinschaft von inzwischen neun Personen.
Aber, so ganz unter uns – ich bin ja selbst gespannt, was das werden wird. Denn bisher weiss ich nur mit absoluter Sicherheit nur, wie das Ganze enden wird. *lol*
merlinx meint
… und ich muss schon schmunzeln, dass Sie über unsern Blogmaster schmunzeln, wie er jetzt drangeht, sich neu zu positionieren … er befindet sich anscheinend in einer prächtigen Potlatch-Stimmung …
Zu dem von Ihnen angesprochenen Paradoxon: An die Geburt erinnere ich mich nicht, das Leben zerrinnt unter den Händen und über den Tod werde ich niemanden erzählen können – wie soll man das nur aushalten?
Gotte meint
tja! viele halten das eben gar nicht aus, deshalb wollen sie keineswegs auf dem friedhof, sondern im diamantanhänger, im rhein oder im wald bei mir um die ecke, so ganz individuell, begraben werden. nichts schlimmeres als eine konventionelle beerdigung, die der eigenart des verstorbenen nicht gerecht würde! deshalb lieber etwas individuelles, einzigartiges, unvergleichliches. auch die kinder werden ja nicht einfach geboren und mit wasser abgespritzt – nein, das wird auch so richtig inszeniert, so individuell gestaltet und für die namen überlegt man sich etwas, das unvergleichlich einzigartig ist und das kind sein leben lang zum buchstabieren zwingt. heirat auch nur noch so, dass es ganz anders ist als alle andern heiraten (wobei wir mit den lustigen diashows selbst in der abgelegensten waldhütte und unter dem grössten baumdach noch belästigt werden). weil eben alles individuell ist, muss jeder rite de passage so sein! heraus kommt leider meist ein unsäglich peinliches gemurks, das den anwesenden eine lektion im fremdschämen lehrt und bei mir die bange frage aufkeimen lässt: warum nicht einfach konventionell? bin übrigens sicher, dass es auch für mm das eine oder andere kollektiv gäbe, dem er sich freiwillig anschliessen könnte. und rückzug in die blutsbanden der familie wäre bei diesem thema schlicht: reaktionär.
merlinx meint
Diese schrecklichen Auswüchse eines Drangs nach Individualismus könnten auch als eine verzweifelte Reaktion gegen das Versinken als Einzelne/r in der Masse, gegen das Erkennen, wie bedeutungslos der/die Einzelne geworden ist, verstanden werden, wo hingegen die alten Rituale unseren Vorfahren vielleicht Halt vor der Verlorenheit in der Welt gaben und sie erst in die Gesellschaft und Natur einfügten.
Deswegen sage ich mir dann halt, die Summe der Gefahren bleibt sich gleich, nur ihre Qualität hat sich verändert …
Sie werden ihn holen, die Kollektive, das ist ja so klar wie …
Ich kann aber daran nichts Reaktionäres erkennen, wenn der Opa auf dem Teppich liegt und mit dem Enkel Lego spielt, oder in der Abenddämmerung ihn, eingeschlummert auf den Schultern, vom Spaziergang im Walde nach Hause trägt, oder mit ihm auf dem Sofa im iPad eine Folge von „Doktor Fieberbei“ anschaut …
Gotte meint
es ist ja nicht so, dass der einzelne erst neuerdings bedeutungslos geworden wäre. er war es schon immer, aber wir leben in einer zeit, die sich diese erkenntnis nicht mehr akzeptiert. der anspruch ist. und um ein kleines missverständnis zu beheben: es ist nicht reaktionär, in seiner familie zu sein und mit ihr zeit zu verbringen. reaktionär wäre vielmehr die behauptung, dass die familie das einzige kollektiv sei, das dem freiheitsliebenden indvidualist für sein kollektiv-bedürfnis offen steht. weil: freiheitliche gesellschaft = wahl der kollektive, während reaktionärer kommunitarismus = blutig verbunden, wahl des kollektivs nicht nur nicht möglich, sondern überflüssig, weil familie nicht nur kuschelig, sondern einzig ernst zu nehmendes kollektiv.
. denn es ist ja gerade
M.M. meint
Köstlich, liebe Gotte, köstlich. Weil – ertappt von wegen Rhein oder Birs. Wobei, ich bin nicht so der Wassertyp (Zwilling, Luft).
Das mit der Familie ist eher gemeint als Zeit und Emotionen, plus interessante Diskussionen, plus (Achtung, reaktionärer Kitsch) gutes Essen, plus usw.
U. Haller meint
Independence ist ein gutes Gefühl. Droht sie aber in Leere auszuarten, ist rechtzeitig Gegensteuer zu geben. Hier einige gutgemeinte Tipps:
http://www.aktive-rentner.de/rente-und-dann-vorbereitung-auf-den-ruhestand.html
PS. Ein Tipp aus meiner eigenen Erfahrung: Ein „Seitenwechsel“, so wie ich ihn vorgenommen habe, kann zwar sehr fordernd, auch auch sehr befreiend sein. „Leere“ wäre für mich undenkbar und auch belastend.
M.M. meint
Danke für den Tipp – aber genau so stell ich mir das eben nicht vor. Tut mir leid, schon die Begriffe finde ich eine Zumutung: Rentner, Helfer, Ehrenamt, Nebenjob, Lebensabend.
Ich habe noch nie in ein gängiges Schema gepasst, das will ich beibehalten. Deswegen: Ich seh das eher wie ein Acid-Trip: du stürzt dich rein in eine völlig neue Welt, weil du das Ding eh nicht mehr stoppen kannst.