Ich stelle mir diesen Moment der Stille vor, an diesem 8. Mai 1945, als Nazideutschland kollabierte und alles, was gestern irgendwie noch gezählt hatte, einfach nicht mehr da war. Wie auch immer man zum Regime stand und wie sehr man sich auch das Ende des Krieges herbeisehnte, niemand wusste, wie es danach weitergehen wird, so ganz persönlich und überhaupt.
Der 4. September 476 AD war eine andere «Stunde null». An diesem Septembertag wurde der letzte weströmische Kaiser Romulus durch putschende Offiziere abgesetzt. Man brachte ihn nicht mal mehr um, wie es in den letzten tausend Jahren üblich war, sondern verbannte ihn auf ein Landgut. Vielen Historikern gilt das Datum als der Tag, an dem das Römische Reich im Westen zu existieren aufgehört hat.
Der Tag war der Schlusspunkt turbulenter Jahre des Abstiegs.
Im August 410 war das bis dahin Undenkbare geschehen: Rom wurde von Barbaren überrollt; die Goten plünderten die Stadt. Eine sicher geglaubte Ordnung, wie fragil sie zu der Zeit auch bereits gewesen war, kollabierte.
Damit nicht genug: 452 fielen die Hunnen in Italien ein. Rom, das noch vor wenigen Jahrzehnten dank einer Reihe von «Kasernen»-Cäsaren – heute würde man von Militärdiktatoren sprechen – mächtig wie nie zuvor war, hatte den Nomadenkriegern militärisch nichts mehr entgegenzusetzen. Papst Leo I. soll Attila zum Abzug bewogen haben.
Es war wohl eher die Malaria, welche ihn und seine Steppenreiter zum Rückzug bewog.
Rom verlor damals endgültig die Kontrolle über die westlichen Provinzen. Das Römische Reich, dessen Handelsrouten bis nach Indien und tief nach Afrika reichten, brach auseinander.
Wollte ich mich einmal mehr unbeliebt machen, so hielte ich fest, dass mit der Europäischen Union sich die 1500 Jahre lang bekämpfenden Provinzen wieder zu einer politischen, rechtlichen und monetarischen Einheit zusammenfinden.
Während der Untergang des Dritten Reichs der militärischen Überlegenheit der Alliierten zugeschrieben werden kann, kann das von den ins Reich einfallenden Barbaren nicht behauptet werden.
Bereits im 18. Jahrhundert vertrat der Brite Edward Gibbon in seinem Klassiker «The History of the Decline and Fall of the Roman Empire» die Meinung, (West-)Rom sei weniger an den einfallenden Goten, Germanen und Hunnen zerbrochen als vielmehr an innerer Schwäche.
Hier knüpft der amerikanische Altertumsforscher Kyle Harper mit seinem 2017 erschienen Werk «The Fate of Rome» an.
Gestützt auf neueste Forschungen zum Klimawandel und zu Infektionskrankheiten zeichnet er in einer fesselnd geschriebenen historischen Erzählung nach, wie das Schicksal Roms nicht allein von Kaisern, Militärs und Barbaren, sondern auch von Vulkanausbrüchen, Sonnenzyklen, Klimainstabilität und tödlichen Viren und Bakterien bestimmt wurde.
Beispielsweise hatte bis ins Jahr 172 eine über zwanzig Jahre wütende Pandemie, bekannt als «Antoninische Pest», die römische Armee praktisch ausgelöscht.
In diese Zeit fällt auch der Beginn eines dramatischen Klimawandels, der 300 Jahre später in die Kleine Eiszeit der Spätantike mündete.
Unter diesen für eine apokalyptische Religion günstigen Umständen ist der Erfolg des Christentums gut zu verstehen. Dieses hatte die Hoffnung auf eine baldige Wiederkunft ihres Erlösers im Angebot.
Kyle Harper: The Fate of Rome; Climate, Disease, and the End of an Empire, 2017 Princeton University Press.
Zuerst erschienen in der Basler Zeitung vom 4. April 2018.