Wohnhäuser statt Gaskessel, am Regent’s Canal
E-Voting entspringt dem Irrtum, eine hohe Stimmbeteiligung sei das Zeichen für eine lebendige Demokratie.
Hätten Sie mich vor vier Jahren gefragt, ich wäre Feuer und Flamme gewesen. Denn ich gehöre zur digitalen Elite. Ich lese Zeitungen nur noch als E-Paper, Bücher lade ich auf meine Kindle App, ich halte über Twitter und RSS-Feed Kontakt zu mehreren Hundert Newsquellen; von Thinktanks über Online-Medien und Agenturen bis zu Wissenschaftlern, Politikern (auch Trump) und sonstwie originellen Denkern.
Ich nutze einen Laptop zum Schreiben und für Netflix-Serien, das Tablet zum Lesen und Surfen, ein Smartphone als Navi fürs Stadtwandern und für U-Bahnfahrten, zum Buchen von Flug- und Zugtickets. Die Smartwatch am Handgelenk ist Fitness-Tracker und Infozentrale.
Ich bin online.
Wenn Sie mich also vor vier Jahren gefragt hätten, ob bei uns für Wahlen und Abstimmungen E-Voting eingeführt werden soll, dann hätte ich geantwortet: Was für eine Frage!
Ich habe meine Meinung geändert. Weil sich die politische Landschaft verändert hat, weil die überbordenden Abstimmungen kaum mehr von sachlich begründeten Argumenten und, ja, auch Zuspitzungen geprägt sind, sondern von emotionaler Polemik und alternativen Fakten.
Die unbequeme Wahrheit: E-Voting ist das Instrument für die politisch Extreme, weil sie ihre Kampagnen ganz auf das Instant-Voting ausrichten kann. Die direkte Demokratie droht in eine Like-Volksherrschaft abzudriften.
Von 1986 bis in die Mitte der 90er-Jahre war ich im Auftrag von Parteien und Komitees Kam- pagnenleiter für jährlich drei bis vier Abstimmungen. Damals hatten Abstimmungskomitees vier Wochen Zeit, um ihre Argumente darzulegen und mit den Gegnern Pro und Kontra zu diskutieren.
Auch am Lokalradio.
Mit der in Basel-Stadt 1994 eingeführten brieflichen Stimmabgabe änderten sich die Spielregeln. Seither dauern Abstimmungskampagnen drei Wochen länger, weil man zuerst diejenigen, die in der ersten Woche nach Erhalt der Stimmunterlagen abstimmen, überzeugen muss. Die zweite Abstimmungswelle folgt in der letzten Woche. Spätestens am Mittwoch ist Schluss, sonst trifft das Couvert nicht rechtzeitig ein.
Urnengänger sterben weg.
Mit E-Voting verändern sich die Abstimmungskampagnen radikal. Wer sich Gehör verschaffen will, muss dem Gegner lautstark auf allen Kanälen widersprechen und komplexe Sachverhalte auf 140 Zeichen eindampfen.
Wenn die digitale Urne Samstagnacht um 24 Uhr schliesst, dann haben diejenigen die grösste Siegeschance, welche in der entscheidenden letzten Woche mit hanebüchenen Behauptungen und grobgeschnitzten Schreckbildern das Stimmvolk in jenen Erregungszustand versetzen, wo das Denken aufhört.
Dem Gegner bleibt keine Zeit zum Widerspruch und den Medien keine für den Faktencheck.
Die Zielgruppe für die Kampagnenleiter: Leute, die vom social-medialen Trommelfeuer hochgepusht auf der Abstimmungs-App auf Ja oder Nein tippen. Die demokratische Entscheidung wird zur Online-Umfrage. Die Likes haben Folgen.
Gerade weil ich mich schon länger mit der Frage beschäftige, wie man über Online-Kanäle das Verhalten von Konsumenten beeinflusst, bin ich dezidiert fürs Beibehalten der analogen Hürden.
Lesen, abwägen, Stimmzettel ausfüllen, unterschreiben, Couvert in den Briefkasten – mit der Entschleunigung des Abstimmungsprozesses lassen sich Demagogen ausbremsen.
Zuerst erschienen in der Basler Zeitung vom 22. Februar 2017.
Forrer Thimo meint
Mit der Kernaussage dieses Beitrags stimme ich absolut überein.
Eine Beschleunigung der Prozesse ist heutzutage (Wirtschaft sei Dank, Stichwort „mehr Effizienz“) leider schon normal geworden.
Gerade bei einer Angelegenheit wie der Volksabstimmung birgt das aber auch Gefahren.
Erstens wird der wichtige Prozess der Meinungsbildung untergraben. Ich merke das manchmal selbst, dass ich einige Wochen brauche um mir für ein bestimmtes Thema eine Meinung zu bilden. Dann trifft es sich manchmal ganz gut, wenn ich einige Wochen für die Meinungsfindung habe und erst dann die Abstimmungsunterlagen erhalte.
Die Beschleunigung durch E-Voting würde also wirklich den Populisten Tür und Tor öffnen, Recherche und Diskussionen würden durch Hassparolen der „Reichweitenstärksten“ ersetzt.
Kurz: Das Volk würde politisch verblöden und dann dumm gehalten. Das was wir heute lachend den US-Bürgern vorwerfen wird dann bei uns Realität.
Und zweitens sind Informatiksysteme niemals sicher. Es gibt immer einen Weg sich unberechtigten Zugang zu verschaffen und Manipulationen vorzunehmen.
Bisher war ich vor allem wegen des Sicherheitsaspekts von IT-Systemen gegen E-Voting.
Der Gedanke, dass nicht immer alles noch schneller und noch effizienter funktionieren muss, gefällt mir aber auch sehr gut weil er die Realität gut widerspiegelt. Der Mensch ist von Natur aus einfach nicht „noch schneller und noch effizienter“.
Nur einen Satz muss ich kritisieren:
„E-Voting entspringt dem Irrtum, eine hohe Stimmbeteiligung sei das Zeichen für eine lebendige Demokratie.“
Das mag für das E-Voting durchaus zutreffen, da eine solche Like-Gesellschaft mit reiner Massenpsychologie funktionieren würde (und dank Gustave LeBon wissen wir, dass Massen ziemlich dumm sind). Für die klassische Demokratie mit den klassischen Abstimmungsprozessen (Briefabstimmung und Urnengang) ist in meinen Augen eine hohe Stimmbeteiligung allerdings Ausdruck einer lebendigen Demokratie.
Sonst geht es immer weiter mit dem Status Quo in dem 45% von 75% einer Gesellschaft (also knapp 30% aller Leute) über 100% der Gesellschaft bestimmen. Das ist in meinen Augen keine demokratische „Mehrheit“ mehr.
G. Koller meint
Ist das nun die iDämmerung, das e-Twilight?
Keiner hier, weder der werte Consultant, noch der wortreiche Herr LR, geschweige denn der geschätzte Herr RR, nehmen das ominöse Wort in den Mund: KONTROLLE!
Die „digitale Entwicklung“ ist an einen Punkt gelangt, wo die Kreativität und Freiheit der End User, dh all der Head-down-Display-Wischer, die ja eigentlich vor allem dem immerwährenden Appetit auf Kommerz und Konsum dienen sollte, sich auch in andere, umgekehrte Richtungen äussern könnte, neben vielem Praktischen und Vergnüglichen auch unerwünschte Änderungen der Machtverhältnisse anstossen könnte.
Und übrigens, Fälschungen, Beeinflussung, Agitation gab es schon immer.
Im Mittelalter waren es die Mönche, welche die handschriftlichen Urkunden nach Belieben zu Gunsten der Kirche und des Adels fälschten;
auf die Bedeutung des Buchdrucks mit seinen Flugschriften und -blätter darf gerne jetzt (500-Jahr-Feier der Reformation) erinnert werden;
und jetzt ist eben Twitter das perfekte Instrument zur Information, Propaganda und Agitation geworden.
… Die ich rief, die Geister, Werd’ ich nun nicht los … (… wieder mal Goethe, Der Zauberlehrling …)
gotte meint
mm wirft eine sehr interessante frage auf. tatsächlich verändert jede (technische) änderung bei der möglichkeit der stimmabgabe den wahlkampf – anderseits weckt jede (technische) änderung auch immer ängste, es könne alles anders werden. vielleicht könnte man der von mm skizzierten „gefahr“ des klick-like-votings auch mit technischen mitteln etwas begegnen, z.b. zweistufiges verfahren mit zeitverzögerung o.ä. – wie auch immer: interessanter aspekt, der bedacht werden muss, aber doch für sich alleine noch kein grund, flinte resp. maus ins korn zu werfen.
M.M. meint
Das mit den Ängsten schwingt tatsächlich mit. Ist jedoch wie immer ein schlechter Ratgeber.
Ich denke, man muss in der Diskussion um E-Voting einfach noch andere Aspekte als die Kosten, „ist praktisch“ und „grössere Beteiligung der Jungen“ betrachten.
Zu Hinterfragen ist beispielsweise auch die Rolle der Post, die in Basel-Stadt Programmierung und Technik liefert. Was geschieht, wenn der Bund das Unternehmen privatisiert und irgendein Staatsfonds übernimmt ein bedeutendes Aktienpaket?
U. Haller meint
E-voting, sofort!
Das Josef Stalin (!) zugeschriebene Diktum »Die Leute, die die Stimmen abgeben, entscheiden nichts. Die Leute, die die Stimmen zählen, entscheiden alles« wird eben gerne von den Verschwörungstheoretikern ins Feld geführt, wenn es um die Einführung des E-Votings geht. Ich gehöre auch zur digitalen Generation (das Wort »Elite« lasse ich geflissentlich weg…) und habe vom Lochkartenzeitalter bis zu den neuesten digitalen Gadgets schon alles konsumiert, fühle mich aber immer dann als Fossil, wenn ich heute noch das Couvert wie anno 1966 zur Post bringen muss. Es kommt die Zeit, in der man über so viel archaische Gepflogenheiten nur noch lachen wird. Meine Söhne lachen jetzt schon. Soll mir doch keiner sagen, dass es keine Systeme gibt, die sicher und nicht manipulierbar sind. Und noch etwas: Sind es gewisse Politiker, die dem Internet nur deswegen Steine in den Weg legen, weil sie befürchten, von den aufgeschlossenen jungen E-Voters nicht mehr im Amt bestätigt zu werden? Das wäre ja ein Armutszeugnis sondergleichen….
M.M. meint
Es geht nicht um Wahlen in erster Linie, sondern um Abstimmungen. Und die Frage ist nicht die der Technik der Stimmabgabe, sondern der Abstimmungskampf.
Da mache ich einen Grossanlass auf YouTube übertragen – so der Art von Erweckungskirchen. An Ende des Einpeitschens: „Und jetzt nehmen alle ihr Smartphone zur Hand und stimm mit mir JA!“
Siro meint
Im heutigen System sind einzlene Stimmen manipulierbar, aber nicht das ganze System. Weil das heutige System gerade eben anarchisch und dezentral ist. Zudem ist es technisch robust und konstengünstig. Jeder „Bachel“ kann die Ermittlung eines Ergebnisses nachvollziehen. Deshalb geniessen die Entscheide sehr hohes Vertrauen. Wir akzeptieren die Entscheide und haben Vertrauen, dass wir der Souverän unseres Landes sind. Entstehen Zweifel an der Ermittlnug der Ergebnisse, entsteht Misstrauen und das Fundament unseres Zusammenlebens beginnt zu bröcklen. Die Schweiz, die sich wie kaum eine andere Nation, als politische Nation definiert, solle sehr aufpassen, was sie da in Gang setzt.
Gerade Leute, die sich mit IT auskennen und die mit dem Internet aufgewachsen sind, haben kein Vertrauen in diese Systeme. Weshalb sollen wir eines unserer höchsten Güter ohne Kontrollmöglichkeit einzelnen(!) IT-Experten anvertrauen?
allotria meint
Naja, ich persönlich finde die digitale Stimmabgabe, so wie sie derzeit an einigen Auslandschweizern getestet wird, ganz gut.
Und glaubt mir, es gibt dort auch noch „analoge Hürden“; muss man doch mehrere Codes vom Stimmrechtsausweis ablesen, eingeben und vergleichen.
In diesem Sinne ist zumindest das Auspacken der Unterlagen sichergestellt. Dass die Bürger das Material lesen und auch verstehen ist ja heute auch nicht gewährleistet.
M.M. meint
Ich weiss, dass das jetzige System ziemlich steinzeitig ist. Weshalb es nach Vereinfachung ruft. D.h. es muss auf Smartphones ausgerichtet werden. Also beispielsweise anmelden mit ID Touch pser der Iris-ID. Dann sind wir bei der Situation, wie ich sie beschrien habe.
Siro meint
Einzelne Auslandschweizer machen das System noch nicht per se manipulierbar. Hier könnte E-Voting als Ausnahme durchaus Sinn ergeben. Die Kosten dürften bis auf Weiteres jedoch in keinem Verhältnis zu sicheren und analogen Methoden stehen.
redbüll meint
@MM: Sie haben völlig recht.
isaac reber meint
ich schliesse mich redbüll, den ich nicht kenne, an 🙂
und ps: „elite“ ist heut ein delikates wort!
M.M. meint
na ja, der Aufreger war bewusst gesetzt.
Siro meint
E-Voting ist hochgefährlich.
Solange es ein Stimmgeheimnis gibt, kann kein Mensch der Erde (schon gar nicht mit eigenen Sinnnen) sicherstellen, ob das Ergebnis nicht systematisch manipuliert wurde. Im alten System, können vielleicht ein paar Stimmen „verloren“ gehen, aber jeder Mensch kann das Resultat mit eigenen Sinnen nachvollziehren. Das System ist robust gegen Ausfälle, Manipulationen und extrem kostengünstig.
(Und nein: E-Banking und E-Voting sind fundamental unterschiedlich. Beim E-Banking meldet sich jemand, wenn der Erfolg nicht eingetreten ist, beim E-Voting habe ich ein falsches Resultat, ohne dass jemand weiss, wie meine Stimme gezählt wurde.)
Und rein paktisch: Wer kann sich noch all die Passwörter und Einloggverfahren erinnern, die der höchstens vier mal im Jahr braucht. Am Samstagabend werden die Anrufe auf die Gemeindeverwaltungen in Leere laufen, wenn die Stimmbürger ihr Passwort vergessen haben, sich nicht einloggen können oder sich die Mobile-Nummer geändert hat.
Und wo liegt überhaupt der Vorteil?
M.M. meint
Völlig einverstanden. Ich habe noch eine andere Befürchtung: Bei den Passkontrollen in den USA, Kanada, aber auch anderen Ländern kommt es immer öfter vor, dass auch völlig unverdächtige Personen – jüngster Fall ein NASA-Ingenieur am Flughafen von San Franzisko – ihr Handy aushändigen müssen, zusammen mit dem Passwort.
Den Behörden saugen innert wenigen Sekunden sämtliche Daten inkl. Passwörter vom Smartphone und können damit ein Profil des Reisenden erstellen. Wer mit dem Smartphone abstimmt, könntr sehr viel preisgeben.
Übrigens, wer das verhindern will, reist ohne sein Smartphone in die USA. Internationale Konzerne händigen bereits Mitarbeitern nach dem Grenzübertritt neue Handys aus.
Henry Berger meint
…und wieso gehören Sie zur digitalen Elite? Was Sie beschreiben, macht doch heute jeder 14-jährige Teenager.
Aber wie schon Erich Kästner gesagt hat: „Bescheidenheit ist eine Zier, doch weiter kommt man ohne ihr …“
M.M. meint
Es gibt Bezeichnungen, die provozieren. Elite, zum Beispiel. Und wenn dann noch einer von sich selbst sagt, das ist schon ein Tabubruch.
Wenn ich hier also offenlegen würde, welchen Honorarumsatz ich in den letzten zehn Jahren mit welchen Online-Projekten (die meisten völliges Neuland) erzielt habe, dann würde sich diese Frage erübrigen.
Aber selbst das schreibt man so nicht.
Im Übrigen befasse ich mich intensiv mit den den neuesten digitalen Entwicklungen und deren politischen und sozialen Auswirkungen.
x3r meint
Einverstanden. Kommt dazu, dass evoting nicht vertrauenswürdig ist, da es meines Wissens (Quelle Chaos Computer Club) kein online System gibt, das gleichzeitig das Stimmgeheimnis wahrt, sicher ist und die Auditierbarkeit garantiert. Bei evoting kann bei erfolgreichem Betrug zudem ein ungleich viel höherer Schaden angerichtet werden als wenn in einer Handvoll Wahlbüros gemauschelt würde. Daher: Hände weg!