Dies scheint der zeitgemässe Imperativ für Covid-19 zu werden: „Wir müssen über den Wert eines Menschenlebens sprechen.“
Was impliziert, dass der ökonomische Wert eines 80+jährigen Rentners bedeutend geringer ist, als der eines 45-jährigen Programmierers.
Eines 45-jährigen Programmierers ohne Übergewicht und chronische Vorerkrankungen, versteht sich.
Wir müssen über den Wert eines Menschenlebens reden, kann man heute in der BaZ lesen, weil uns ein „ökonomisches Waterloo“ droht, mit unabsehbaren Kostenfolgen.
Die Storyline geht dann so weiter: Man muss nach Ostern den Lockdown für die aktive Bevölkerung schrittweise aufheben, die Kinder wieder zur Schule schicken und stattdessen soll man die gefährdeten Alten wegschliessen, sie sollen sich solange in Quarantäne aufhalten, bis das Virus dank Herdenimmunität besiegt ist.
Danach können auch die überlebenden Alten und jüngeren Gefährdeten wieder raus.
In England liegt der Premierminister, der diese Strategie in den ersten Wochen der Pandemie seinem Land verordnet hat, seit gestern mit schweren Symptomen im Spital.
Markus Somm, so alt wie der britische Premier und als Kolumnist der SonntagsZeitung wohl auch systemrelevant, ist ein erklärter Anhänger der Augen-zu-und-durch-Strategie (die derzeit nur noch in Schweden verfolgt wird.)
…60 bis 70 Prozent der Bevölkerung stecken sich an und werden so nach überstandener Krankheit immun, womit das Virus meistens verendet.
Voilà, Problem gelöst.
Weshalb ich voll einverstanden mit Markus Somm bin. Es braucht jetzt einfach etwas mehr Mut zu Darwin.
Deshalb soll er (und die anderen, die solches fordern), mit mutigen Schritten voran gehen und sich, seine Frau und seine Kinder mit dem Coronavirus infizieren lassen.
Um so einen Schutzschild um seine bald mal 90-jährigen Eltern zu bilden.
Das Problem ist, dass das mit der Coronavirus-Infektion wie russisch Roulette ist. Man weiss erst nachdem alles vorbei ist, ob die Revolverkammer leer war und man zu den 80 Prozent mit einem harmlosen Krankheitsverlauf gehört.
Markus Somm ist ja nicht der Originaldenker des wirtschafts-darwinistischen Ansatzes zur Bewältigung der Coronakrise. Die Anhänger der Kosten-Nutzen-Rechnens bilden schon seit Wochen eine Internationale.
Einer der Vordenker der Bewegung ist der Vizegouverneur von Texas, der schon im Februar die Alten – aka die ökonomisch nicht mehr Wichtigen – aufforderte, sich für die Jungen – aka die Wirtschaft – zu opfern.
Sterben für den Aktienkurs, quasi.
Und wenn sie erst weg sind, können sie doch die Milliarden erst noch selbst begleichen, welche die Schweiz zur Rettung der Wirtschaft derzeit aufwirft:
Es muss über eine temporäre, 95-prozentige Erbschaftssteuer sowie eine Deckelung von grossen Pensionen nachgedacht werden. Ungerecht? Dass wir alle nun wegen der Alten zu Hause bleiben und unsere Jobs verlieren, ist auch ungerecht.
Schreibt ein „Entwickler von strategischen Narrativen“ in der NZZ am Sonntag.
Warum erinnert mich die Forderung irgendwie an die Reichsfluchtsteuer der Nazis?
Ist ja egal. Man darf doch mal auch Unbequemes denken.
Überhaupt, Politiker aller Couleur, die unter Entzug leiden, rufen sich mit allerhand Forderungen in Erinnerung.
Man will keinesfalls den Zug verpassen, sollte er denn demnächst wieder anrollen.
Seht her, der Bundesrat befolgt meine Ratschläge, kann dann die Gössi behaupten.
Ach die Gössi. Kann ihr mal jemand sagen, dass die Differenz zwischen Fordern und Anordnen Verantwortung ist?.
Und dann noch der Bäumle von der GLP, von dem man schon seit Wochen nichts mehr gehört hat.
Der fordert eine App, die anzeigt, wer ein Gefährder ist. Damit könne dann der Türsteher vor dem Restaurant und dem Einkaufszentrum entscheiden, wer rein darf und wer nicht.
Eine App? Ist doch zu kompliziert.
Ich bin für einen Aufnäher, vorne auf der linken Brust und hinten am Rücken „65+“ und „Gefährder“.
Das hat sich bekanntlich schon mal bewährt.
Solcherart Gekennzeichnete haben das Trottoir zu wechseln, wenn ihnen Aufnäherlose entgegenkommen. Sie dürfen nicht mehr Parkanlagen benutzen und nicht mehr überall einkaufen. Einer Tätigkeit nachzugehen, wird ihnen untersagt.
Ist alles nur zu ihrem Besten.
Hey, man darf doch auch mal Dinge sagen, die halt nicht so bequem sind.
Zum Beispiel das: Ihr könnt mich mal.
Ounk meint
Mal unabhängig von der Wirtschaft gefragt: Was ist denn die Alternative dazu, nach und nach 60-70% der Bevölkerung durchzuimmunisieren? ALLE für ein Jahr wegzuschließen bis es einen Impfstoff gibt?
Thomas Zellmeyer meint
Vielen Dank für diese treffende und brillant geschriebene Analyse!
Der Wirtschafts-Sozialdarwinismus, der sich inzwischen durch zahlreiche Meinungsäusserungen zieht, ist als das zu benennen, was er ist: menschenverachtender Zynismus.
Dass in den meisten Fällen diese menschenverachtenden Ideen eher Borniertheit, als wirklicher Bösartigkeit geschuldet sind, macht die Sache nicht viel besser. Auch blosse Borniertheit hat in der Geschichte schon blutige Spuren hinterlassen.
Allerdings: Wirklich überrascht haben mich solche Äusserungen bei einigen dieser politischen, ökonomischen und medialen Koryphäen nicht. Erstaunlicher finde ich, dass bei all diesen Überlegungen der Wirtschaftsexperten zum Wegsperren der Ü-65-er auch einige einfache Einsichten in die ökonomische Lebensrealität fehlen.
Ältere und alte Menschen werden da offenbar als Angehörige einer kleinen, ökonomisch vernachlässigbaren Minderheit gesehen, die ausser für die Pharma- und die Rollatorindustrie nicht von Interesse ist. Klar doch, Menschen über 65 gehen ja auch nicht mehr zum Coiffeur, fahren nicht Taxi, kaufen weder Kleider, Schuhe, Bücher noch Möbel ein, sind nie in der Dentalhygiene oder Fusspflege!
Gerade einige der vom jetzigen Lockdown besonders betroffenen Branchen oder Branchenteile leben ausgesprochen ausgeprägt von den Ü-65-jährigen. Sie würden wohl nur wenig von einer Öffnung profitieren, wenn diese zugleich mit einer erzwungenen und diskriminierenden Isolation der Alten verbunden wäre:
– wenn ich in dem Dorf, in dem ich wohne (Allschwil), in eine Dorfbeiz gehe (was durchaus regelmässig geschieht) bin ich mit meinen 50 Jahren meist einer der jüngsten Gäste. Der Anteil Ü-65 ist hoch.
– In Theateraufführungen und klassischen Konzerten beträgt der Anteil der grauhaarigen, älteren Menschen im Publikum einen vermutlich ähnlich hohen Prozentsatz wie in einem Sonntagsgottesdienst.
– Es sind zu einem grossen Teil Menschen über 65, die in der Schweiz als Tagestouristen oder Hotelgäste die Infrastruktur des Tourismus nutzen.
– Die Tageszeitungen (zumindest in Printform), die dringen wieder Inserate generieren müssen, um überleben zu können, werden vorwiegend von älteren Menschen abonniert. usw.
Kurzum: Ich empfinde das Bashing einer ganzen Altersgruppe nicht nur als zynische Bankrotterklärung der jetzt so vollmundig beschworenen Solidarität angesichts der Krise, sondern auch als ökonomisch kurzsichtig.
Fm meint
Leider schieben wir mit der Isolation das Problem nur vor uns her. Sobald wir die Quarantäne beenden, kommt es zu einem sprunghaften Anstieg der Infektionen. Eine Impfung ist frühestens in einem Jahr bereit.
Daher macht es für die gefährdeten Menschen kaum einen Unterschied, ob wir heute oder in zwei Monaten zum Alltag zurückkehren.
Die Quarantäne gibt uns einem Aufschub. Währenddessen müssen wir das Problem lösen, wie wir Herdenimmunität aufbauen, ohne Menschenleben zu gefährden.
Das Virus auf null zurückzudrängen ist nicht mehr möglich. Es wird sich also fast jeden früher oder später infizieren – das ist unumgänglich, wenn wir nicht jede Stadt bis 2025 abriegeln.
Der wirtschaftliche Fallout wird sich durch alle Schichten der Gesellschaft ziehen, vor allem wird es aber die Schwachen treffen. Wir hier in Europa scheinen mitunter zu vergessen, dass Geld das verteilt wird erst erwirtschaftet werden muss.
Jetzt sechs Monate aussetzen, aber nächstes Jahr ein Kollaps der Krankenversicherung – bitte nicht.
Paul Menz meint
Ich möchte Ihnen herzlich gratulieren für diesen in jeder Beziehung hervorragenden Artikel !!!
Das bestätigt meine Meinung: Nicht das Virus ist das Problem – Wir MENSCHEN sind das Problem.
Mit herzlichen Grüssen
Paul Menz, Arlesheim
Edith Jaeckle Stotz meint
Das Beste, was du seit Langem geschrieben hast!
Henry Berger meint
Vielen herzlichen Dank für Ihren Beitrag!
Baresi meint
Dem kann uneingeschränkt beigepflichtet werden. Aber. In meinem Freundes- und Bekanntenkreis sind jene in der Mehrheit, welche mit Ihren Eltern die grössten Diskussionen haben, wenn es darum geht die aktuellen Vorgaben des BAG einzuhalten. Ein paar Wochen oder am Ende vielleicht auch Monate daheim wie alle anderen (jüngeren) müsste auf ein Menschenleben machbar sein. Denkt man. Nach so Diskussionen ist man manchmal schon auch versucht zu sagen: ihr könnt uns mal. Wäre da nicht das von Überlastung bedrohte Gesundheitswesen und deren Mitarbeitenden, die keine Wahl haben.
Niggi Ullrich meint
Sehr unbequem/sperrig gedacht aber brillant geschrieben. Und das aus dem Homeoffice!
Zudem: Lesen bildet, sage ich. Und bin froh, dass der Blog von MM nicht viral geht. Wir würden uns noch wundern müssen.
M.M. meint
So ist es. Ich denke, wir lassenuns jetzt einfach nicht unterkriegen. (Sehr viele Reaktionen auch auf Twitter.)
Gaby Koller meint
Ganz zu schweigen von den sozialen Un-Kosten, will sagen Gratisarbeit, die wir Alten mit Kinderhüten, Betreuungsarbeit in Seniorenheimen und Schulen, Beratungsdienste und Knowhow-Dienste für die Unternehmen und KMUs leisten…
= ökonomisch SEHR kurzsichtig…
Wenn das alles der Staat, der ja nicht einmal die KITAs überall unterstützt, übernehmen müsste… nicht auszudenken!
Nicht nur die Kultur lebt weitgehend von dieser Altersgruppe, auch die Tourismusbranche, Hotellerie und Gastronomie…
Auch die Forschung setzt auf die Erfahrung der Ü65…
Wegsperren wäre kontraproduktiv!!
Es ist wieder einmal Zeit, einen Sündenbock für die Krise zu suchen, hatten wir schon mal im Mittelalter mit der Pest…