In meinem Büchergestell stehen unzählige Bücher, die ich nie zu Ende gelesen habe. Weil bei Sachbüchern beispielsweise die Kernthesen schon nach den ersten Dutzend Seiten zu flach sind oder bei Romanen die Handlungen und Personen langweilen.
Dann gibt es noch diese Ferienromane. Die liest man in einem Rutsch durch, weil sie unterhalten und Schluss.
Und es gibt ein paar wenige Bücher, die einem derart beeindrucken, dass man sie ein Leben lang nicht mehr vergisst. Wobei die Handlung mit der Zeit ihre klaren Konturen verliert. Es ist jedoch dieser eine Gedanke, dieses prägende Bild oder eine beklemmende Stimmung, die einen für den Rest des Lebens begleiten. Beispielsweise dieses Bild, wenn sich Kafkas Gregor Samsa über Nacht in ein «ungeheures Ungeziefer» verwandelt. Oder dieses schicksalhafte Vorwärtsstolpern in «Der talentierte Mr. Ripley» von Patricia Highsmith, wo man gegen das Ende des Romans hofft, dass Tom Ripley mit seinen Morden davonkommt. Oder die Dynamik in «Manhattan Transfer» von Dos Passos, dieses Puzzle aus ineinander verstrickten Einzelschicksalen und zufälligen Begegnungen.
Ganz wie im richtigen Leben.
Ein Roman belegt auf meiner durchaus noch erweiterbaren Liste den obersten Platz: Stanislaw Lems «Solaris», den ich Anfang der Siebzigerjahre gelesen habe. Kurz zur Handlung: Menschen haben in der Umlaufbahn eines fernen Planeten eine Raumstation eingerichtet. Dieser Planet ist ein gallertartiger Ozean, auf dessen Oberfläche sich fortwährend bizarre Formen herausbilden. Ob es sich dabei um zufällige Erscheinungen handelt, wird beantwortet, als sie erkennen, dass es ihr Unterbewusstsein ist, das die durchaus real erscheinenden «Lebewesen» hervorbringt.
Mich hat Lems ursprüngliche Fragestellung, ob es Menschen überhaupt gelingen werde, mit Lebensformen anderer Planeten zu kommunizieren, nicht wirklich interessiert. Was mich hingegen bis heute an diesem Roman fasziniert, ist die Übertragung der Handlungsidee in unsere eigene Realität, die Frage also, ob es nicht unsere eigenen Gedanken und Vorstellungen sind, denen wir immer wieder begegnen. Wir erkennen nur das, was wir imstande sind zu erkennen. Ich möchte nun aber keineswegs in esoterische Sphären abheben. Schliesslich soll auch das hier wieder eine politische Kolumne werden.
Deshalb die Kurve: Am augenfälligsten wird dieses in der eigenen Gedankenwelt hervorgebrachte und dann nach aussen projizierte «Bild von etwas» in der Politik. Politische Programme und Parolen sind meistens recht eigenwillige Interpretationen der Wirklichkeit. Völlig losgelöst von nüchternen Fakten werden bizarre Bilder ausgeworfen, die als Realität interpretiert werden. Terroristen, zum Beispiel, haben sich trotz der Tatsache, dass die allermeisten von uns nie in ihrem Leben einen zu Gesicht bekommen werden, fest in unsere Vorstellungs- und Gedankenwelt eingenistet. Die Frau mit Kopftuch, der junge Mann mit Bart – Muslime? Terroristen!
Die Analogie zum Solaris-Ozean, der sich als denkendes Wesen entpuppt: Mit dem Internet entwickelt unser Planet selbst ein vom menschlichen Denken unabhängiges Gehirn. Dieser Prozess scheint unumkehrbar und dessen von Algorithmen hervorgebrachten Emanationen werden die Zukunft der Menschen mehr bestimmen als politische Programme. Das sind so Sachen, die einem auf einer langen Autofahrt durch Argentinien durch den Kopf gehen.
Zuerst erschienen in der Basler Zeitung vom 2. März 2016 .