Die Bilder, die uns aus der Millionenstadt Brüssel erreichen, sind ziemlich surreal. Sie zeigen menschenleere Strassen, Armeefahrzeuge und patrouillierende Truppen in Tarnanzügen, die in Erinnerung rufen, dass diese Armee für ein anderes Kampffeld ausgebildet worden war.
Die halb verdeckten Gesichter der Soldaten unterstreichen die unwirkliche Szene.
Das Eigenartige: Die Aufnahmen vom verlassenen Brüssel sind einem nicht fremd. Wie oft haben wir nicht schon in Filmen solche Untergangsbilder gesehen, die von einer fernen Zukunft handelten. Die Fantasien aus Hollywood scheinen in Brüssel Wirklichkeit geworden zu sein. Wir sind in der Zukunft angekommen.
Im amerikanischen Online-Magazin Politico lese ich die These, bei Belgien handle es sich um einen «failed state», um einen gescheiterten Staat. Zwar weise Belgien alle Merkmale westlicher politischer Strukturen auf, schreibt Politico, aber in der Praxis funktionierten diese nur noch bedingt.
Einen Beleg für die etwas gewagte These – Belgien belegte 2014 in der Failed-State-Statistik den Rang gleich hinter Deutschland – lieferte Radio SRF am Montag.
Dessen Brüsseler Korrespondent meinte, das grösste Problem derzeit sei, dass die Melderegister in Brüssel unzureichend geführt würden. Was konkret bedeutet, dass derzeit niemand genau wisse, wer denn namentlich in welcher Strasse, in welchem Haus, in welcher Wohnung im Problemviertel Molenbeek wohne. Dieses zählt 95 000 Einwohner, inoffiziell, wie es scheint. Weil man also die Meldepflicht bislang höchst locker gehandhabt hat, sollen die Register sofort nachgeführt werden.
Ich meine, Brüssel ist ja nicht irgendeine Stadt, sondern Europas Hauptstadt. Die Diskrepanz zwischen dem höchst effizienten EU-Verwaltungsapparat und den belgischen bürokratischen Strukturen ist geradezu augenfällig. Ausgerechnet im Verwaltungszentrum der EU wird uns vor Augen geführt, wie dünn das Eis ist, auf dem sich ein Staat bewegt, der wegen unüberbrückbarer Partikularinteressen verschiedener Volksgruppen nur noch auf dem Papier zu existieren scheint.
Was mir am Beispiel Belgien zu denken gibt, sind nicht die Terroristen und deren Bedrohung, sondern das Erkennen, wie wenig es braucht, um eine Millionenstadt zum Stillstand zu bringen, wenn die staatlichen Strukturen während eines jahrzehntelangen Streits zwischen zwei unversöhnlichen politischen Lagern schleichend erodieren. Nach Neuwahlen scheint es inzwischen zum belgischen System zu gehören, dass während Wochen, 2010 gar während eineinhalb Jahren, keine Regierung gebildet werden kann.
Was wir also lernen können, ist nicht nur, dass Tarnanzüge in Städten wenig vorteilhaft aussehen, sondern dass in einem demokratischen System recht viel schiefgelaufen ist, wenn die Hoffnung der Menschen auf Ordnung auf Tarnanzugträgern beruht.
Es gibt nur ein Rezept gegen die «belgische Krankheit»: Bürgersinn, Engagement, Kompromissbereitschaft.
Und dazu die Erkenntnis: Moderne Staaten mit ihren multikulturellen Bevölkerungen müssen zu Willensnationen mutieren.
Nicht mehr die Ethnie, die Sprache, die Kultur sind ausschlaggebend für die Existenzbegründung eines Staates, sondern der freie Wille der Bürger, eine bewusst gewollte Gemeinschaft zu bilden.
Die Schweiz liefert den Europäern die Blaupause: Sie besitzt keine gemeinsame Sprache, keine gemeinsame Religion, aber einen gemeinsamen Willen, der sie zusammenhält.
Zuerst erschienen in der Basler Zeitung vom 25. November 2015
Grummel meint
Unser Kitt heute ist «Kohle». Mal sehen, ob wir immer noch als «leuchtendes Beispiel» da stehen, wenn bei uns die Verteilkämpfe losgehen (ist ja nicht mehr so weit).
Henry Berger meint
Was wir unter „Brüssel“ verstehen gibt es als Stadt schlichtweg nicht. Die Region Brüssel setzt sich aus 19 autonomen Gemeinden zusammen, davon ist Brüssel eine dieser Kommunen und hat ca. 170’000 Einwohnern. Auch dies wohl unter dem Motto „Teile und herrsche“, würde doch eine einzige Stadt mit mehr als einer Million Einwohner das belgische System noch mehr aus dem Gleichgewicht bringen.
„Lustig“ ist ja nun, dass man auf das mangelhafte Meldewesen in Belgien hinweist, dabei jedoch leicht übersieht, dass in Frankreich gar kein Meldewesen besteht. Es ist in der „Grande Nation“ durchaus üblich, dass man seine Adresse mittels einer Strom- oder Telefonrechnung nachweist, do. in Grossbritannien. Unter diesem Aspekt finde ich es halt schon bemerkenswert, weitere Millionen und Milliarden in Geheimdienste zu investieren, wenn andrerseits bereits die Ausgangsbasis jeglichen staatlichen Handelns mangelhaft ist….
Urs Eberhardt meint
Als langjähriger Einwohner Frankreichs und des Vereinigten Königreichs, beiderlands nicht ein einziges Mal einem Meldeverfahren ausgesetzt, kann ich diesen Punkt nur unterstreichen. Unverständlich, warum Staaten mit steigenden Migrationsängsten nicht wenigstens eine Einwohner-Buchhaltung führen. (Diese hätte übrigens auch noch andere Vorteile. Sogar für die Einwohner.) Die Briten zum Beispiel kriegen mehrheitlich schon Pickel in den Achselhöhlen, wenn man das Wort „Personalausweis“ nur ausspricht.