Noch vor wenigen Wochen hat man nichts davon gelesen, hat niemand darüber geredet, hat sich eine breite Öffentlichkeit mit ganz anderen Themen beschäftigt. Dann erste Meldungen aus der Ostschweiz, weitere aus dem Aargau, also von so weit weg, dass sie nicht von Interesse waren. Doch letzte Woche ist das Thema auch bei uns angekommen. Im Oberen Baselbiet, ausgerechnet.
In unserem Sozialhilfesystem scheint sich eine Fehlprogrammierung zu einem für Gemeinden existenzbedrohenden Bug zu entwickeln. Die Ursache der kostspieligen Fehlprogrammierung kann man in einem Satz so zusammenfassen: Weil man die Vormundschaftsbehörden professionalisieren wollte, wogegen man an sich nichts einwenden kann, hat man das dezentrale Milizsystem abgeschafft und durch eine Fachleuteorganisation auf regionaler Ebene (im Kanton Baselland) ersetzt, mit dem monströsen Namen «Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde», kurz Kesb. Der Software-Bug in einem Wort: die Finanzierung.
Massnahmen, welche von den regionalen Mitarbeitern der Kindes- und Erwachsenenschutzbehördej verfügt werden, müssen nach wie vor grösstenteils von der Wohngemeinde bezahlt werden. Ein einzelner Fall von einer Rundumbetreuung, wie sie von den Sozialprofis in den Zentralen immer öfters angeordnet werden, kann eine kleine Gemeinde in den Ruin treiben,
weil sich im Windschatten der Kesb und der Sozialhilfebehörden eine blühende Betreuungs- und Anwaltsindustrie entwickelt hat. Denn irgendjemand muss ja die angeordneten Massnahmen umsetzen.
Nun sind die Finanzen das eine.
Was mich hingegen interessiert, ist die Frage, welches Bild diese Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde von einem sogenannt Integrierten hat. Als die Verantwortung noch bei den Gemeinden lag, hatte das Wort «integrieren» eine konkrete Bedeutung, gerade in kleineren Gemeinden. Aber jetzt geht es offensichtlich um ein theoretisches Normverhalten und damit einzig um die Marktwertsteigerung der «Kunden».
Die Fragen, die mir durch den Kopf gehen: Gibt es ein behördliches Handbuch mit dem Titel «Der integrierte Mensch»? Falls nicht, was ich annehme, wird aufgrund eines berufsbedingten Ahnens oder gar Wissens festgelegt, was die Norm ist und damit gut für den sogenannten Einzelfall? Wie hat man sein Leben zu führen, um den Ansprüchen der Behörde zu genügen? Und die provokativste aller Fragen: Weshalb zahlt man denen, die aus der Norm fallen, nicht ein Grundeinkommen und schafft damit gleichzeitig die Sozialindustrie einfach ab?
Zuerst erschienen in der Basler Zeitung vom 26. September 2014
G. Koller meint
Hhmm, irgendwas an diesem Foto stimmt nicht, da fehlt doch in der untern, rechten Ecke der schmutzige Pappkarton samt dem darauf sich ausruhenden, für diese Stadt typischen Des-Integrierten …
Nein, meiner Ansicht nach wird hier die Arbeit der neuen KESB-Behörden ein wenig schlecht geredet, das neue Recht wurde erst Anfang des Jahres auf Bundesebene in Kraft gesetzt, und diese neuen kantonalen Behörden sind denn auch schnell „an den Anschlag“ gekommen, sprich, mit Eingaben, Anträgen etc. infolge des neuen Sorgerechts überflutet worden, sodass die Einführung auf kantonaler Ebene auf Mitte Jahr verschoben wurde.
Aus ziemlich „gut unterrichteter Quelle“ weiss ich jedoch, dass die „Bedienung“ beim KESB BL (zB Pratteln) gut und zuvorkommend ist und von einem „alten Behördenmief“ überhaupt nichts zu spüren ist. Klar, dies ist nur eine Seite, – was die Ergebnisse betrifft, bleibt abzuwarten, ob all die neuen Verfügungen, Verträge, etc. und die Umsetzung im Grossen und Ganzen akzeptabel sind und den gesellschaftlichen Erwartungen entsprechen. Nicht zuletzt schafft die Schweiz damit ja endlich auch den Anschluss an die Verhältnisse anderer europäischer Staaten.
Ich kann Siro Imbers Kritik nicht so ganz nachvollziehen. Mit dem neuen Sorgerecht wurde doch eigentlich ganz nach dem Gusto eines Liberalen der Schwerpunkt der Übernahme von Verantwortung vom Staat an die (Privat)Gesellschaft, an die Individuen, verschoben, soweit sie fähig und willens sind, diese Verantwortung zu übernehmen, zB im Falle des quasi-obligatorischen Sorgerechts bei Ehescheidungen, oder bei nicht verheiraten Paaren mit Kindern.
Und ganz im Sinne eines Liberalen überlässt der Staat nun das „Fein-Management“ den Betroffenen selbst, und wenn es nötig ist, einer privatwirtschaftlich organisierten „blühenden Betreuungs- und Anwaltsindustrie“, – dh was für die Betroffenen vorher mehr oder weniger gratis in einem staatlichen Vormundschaftsbehörden-Service erhältlich war, das müssen nun die Betroffenen selber berappen, soweit sie dazu imstande sind.
Der Dissens mag für die Liberalen, die Rechte, wohl darin liegen, dass die Kosten für die „sozial schwachen Kunden“ von den Gemeinden übernommen werden müssen, und damit noch nicht genug, verdienen nun auch noch (linke) Sozialarbeiter, Betreuer, Juristen, etc. mit, aber halt wiederum auf Kosten des Gemeinwesens bei Zahlungsunfähigkeit der Betreuten.
Stecken hier die Liberalen, die Rechte, nicht eigentlich ein wenig in der Zwickmühle? In Zeiten der klammen Kassen wirft der Staat sozusagen laufend alten Ballast ab, ist gezwungen zu privatisieren, was vor hundert Jahren noch als unabdingbare Staatsaufgabe verstanden wurde. Das dies nicht nur den einzelnen Betroffenen (finanziell) weh tut, sondern auch den Gemeinden, ist die logische Folge.* Und würgt den stotternden, wirtschaftlichen Motor vollends ab. Dass ich nicht lache!
Hinter Wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit, Gelebter Solidarität, und Grosszügigem Mäzenatentum, egal, da spielen sich nun mal die bitteren, kleinen privaten Notsituationen ab. Wer ist zuständig?
* (N.B. So gesehen stellt die die Lauber’sche Neudefinition der Bezirks- und Gemeindegrenzen ein längst fälliger Schritt dar.
Aber keine Sorge – die Banntage sind nicht in Gefahr …)
Henry Berger meint
..wobei ich ja gar nicht sooo anderer Meinung bin als Sie, auch ich sehe die
ausufernde „Sozialtanten/onkel“-Industrie. Andrerseits bin ich halt der Ansicht, dass die steigenden Kosten nicht nur der Einführung der KESB angelastet werden können. Wenn eine kleine Gemeinde im Jahr 2012 zwei Sozialhilfe-Fälle gehabt hat und 2014 dann vier, so hätte dies auch früher ohne KESB eine grosse Kostensteigerung gegeben. Ich denke, darauf haben auch die Gemeinden hingewiesen, welche der Baz keine Zahlen geliefert haben. Ich denke, bevor man einem Missstand moniert müssen Fakten auf den Tisch und das vermisse ich bei der aktuellen Diskussion und von gewissen Gruppen ist eine Versachlichung wohl gar nicht gewünscht.
Nicht zuletzt möchte ich darauf hinweisen, dass es bei der KESB nicht nur um Sozialhilfe geht, sondern auch um Verbeiständungen, d.h. ein massiver Eingriff in die Persönlichkeit. Dass in einem solchen Bereich rechtsstaatliche Standards eingehalten werden müssen ist für mich eine Selbstverständlichkeit. Ob die Entscheide in diesem heiklen Bereich bei kleinen Gemeinden immer diesen Standards entsprochen haben, sei dahingestellt…
Auch in diesem Bereich ist die Schweiz nun vielleicht kein Sonderfall mehr.
Daniel Schneider meint
Womit wir wieder einmal in der Situation stecken, dass der Bund den Kantonen etwas vorgibt, die Kantone die Umsetzung definieren und die Gemeinden die Sache umsetzen und vor allem selber finanzieren müssen resp. die Sache ausbaden müssen.
Solche Geschichten könnte man ganz einfach beseitigen:
Im Grundgesetz verankern, dass die Stelle, welche ein neues Gesetz oder Reglement in Kraft setzt, auch für die daraus resultierenden Kosten oder zumindest für die Mehrkosten aufkommen muss.
Dies würde alle zwingen, ihre Entscheidungen auch bezüglich der finanziellen Auswirkungen im Detail zu prüfen.
Wäre dies so, so würden die Gemeinden schlagartig mit weniger Regularien beglückt!
kolibri meint
Eine Professionalisierung war notwendig, denn v.a. die kleineren Gemeinden haben nicht immer die notwendigen Entscheide z.B. bei häuslicher Gewalt / Kindesschutzmassnahmen, getroffen, weil sie die Betroffenen kannten und nicht eingreifen wollten. Deshalb sind die kleineren Gemeinden z.T. selbst schuld…
Allerdings stimmt es natürlich, dass es selten gut herauskommt, wenn der Bund legiferiert, ohne die Praktiker an der Kantons- und Gemeindefront zu konsultieren und mit ins Boot zu holen. Neben dem hier diskutierten Thema erinnere ich an die neue (erstmalige) Bundesstrafprozessordnung – die an vielen Stellen bar jeglichen Realitätsbezugs ist. Stichworte: bedingte Geldbussen, Massnahmenkatalog z.B. keine Verpflichtung mehr möglich, häuslich gewalttätige Männer oder Frauen (auch schon vor der Verurteilung) in ein Lernprogramm zu schicken etc.
Baselland war im Bereich „Bekämpfung häusliche Gewalt“ (auch polizeilich) in der ganzen Schweiz führend, mit wenigen Stellenprozenten, mit Verrechnung der Arbeit an Lernprogramm-Teilnehmer und andere Kantone. Alles tempi passati – zuerst das Entlastungsprogramm, das mit dem Segen der ehemaligen Vorsteherin der SID sowohl den Kindesschutz halbierte als auch beim Bereich häusliche Gewalt empfindlich kürzte, eine – höflich formuliert – andere Einsatzdoktrin des ehemaligen Polizeikommandanten und dann die Gesetzgebung.
Was hat das alles gebracht? BL ist abgesunken, bestenfalls ins untere Mittelfeld, und am wichtigsten: von häuslicher Gewalt betroffene Kinder und Erwachsene können weniger geschützt werden. Sowohl menschlich als auch gesellschaftspolitisch als auch volkswirtschaftlich betrachtet eine verheerende Sache.
Henry Berger meint
…so empfindlich? Im Austeilen sind Sie ja auch nicht so schlecht
M.M. meint
Ich bin überhaupt nicht empfindlich. Und niemand muss meiner Meinung sein. Aber hier vorbeikommen und ohne ein Argumente rumpflaumen, geht nun gar nicht.
Siro meint
Landratsdebatte zu den KESB von vor zwei Jahren: http://www.baselland.ch/05-htm.316615.0.html
Ich war zu nett.
Hp. Weibel meint
Oskar Kämpfer hatte in der Debatte folgendes eingebracht (aus dem Protokoll):
„Oskar Kämpfer (SVP) spricht im Namen einer Minderheit der SVP-Fraktion. Die Umsetzung des Bundesgesetzes im Vormundschaftsbereich stiess zwar auf breite, nicht jedoch auf ungeteilte Unterstützung. Die grosse Arbeit der Verwaltung war von Beginn weg auf eine Professionalisierung der Institution ausgerichtet, jedoch ist seit Kurzem bekannt, dass nicht jede Professionalisierung langfristig zu zahlbaren Leistungen führt (beispielsweise Behindertentransport). Bei allen Ausführungen wurde nur die technische Seite des Gesetzes ausgeleuchtet, ob es jedoch zu verbesserten Leistungen für die Betroffenen führt, wurde wenig erörtert.
Oskar Kämpfer ist der Ansicht, dass die Neuregelung nicht zur einer Verbesserung führen wird, da eine Aufgabe von Personen in den Gemeinden weggenommen wird, welche diesbezüglich über grosse Erfahrungen verfügen. Sie verfügen auch über eine breite soziale Kompetenz. Sicher werden durch die Professionalisierung hohe Mehrkosten entstehen. Im Kanton Zürich zeigt es sich, dass einzelne Gemeinden wie beispielsweise Glattfelden unter dem neuen Regime mehrere 100’000 Franken zusätzlich aufwenden müssen. Oskar Kämpfer ist überzeugt, dass es bessere Wege gegeben hätte, um das Bundesgesetz umzusetzen. Er lehnt daher den vorliegenden Bericht und das Gesetz ab.“
Ich gehörte dieser Minderheit an. Rückblick kann bei Beurteilungen nach vorne helfen.
Henry Berger meint
P.S. die „Lösung“ mit den Verdingkindern war halt schon günstiger…
Henry Berger meint
Inhalt gelöscht. Ich diene Ihnen hier nicht als Schuhputzmatte.
cato meint
Das Beispiel KESB zeigt einmal mehr, zu was es führt, wenn Verwaltungsmenschen neue Modelle kreieren und Politiker diese voll Enthusiasmus umsetzen und dabei von Kosteneinsparungen zufolge Synergien, Zentralisierungen etc. schwafeln. In der Regel werden die Kosten nicht kleiner, sondern sie explodieren wie hier oder bei der seit kurzem ebenfalls zentralisierten Stiftungsaufsicht beider Basel. Und da glaubt noch jemand, eine Kantonsfusion, die von sogenannten Fachleuten entworfen und von mittelmässigen Politikern umgesetzt wird, würde Kosteneinsparungen bringen.
Gerhard Schafroth meint
Eine Fusion der beiden Kantone durch Zusammenlegung der hoch ineffizienten Verwaltungen in der Stadt und auf dem Land und der Weiterbeschäftigung der teils unfähigen Regierungsräte kann nur zu einem Flopp führen – da bin ich einverstanden. Sind wir aber wirklich so träge und deshalb nicht mehr fähig, mit guten Köpfen aus der ganzen Region einen neuen Kanton zu gestalten? Einer, der besser ist als die beiden alten? Ein Kanton, der sich nicht als Beamten-Beschäftigungs-Werkstatt versteht, sondern als Dienstleistungsorganisation, die die von der Bevölkerung gewünschten Dienstleistungen zum gewünschten Preis und zur gewünschten Qualität bereitstellt?
Ich hab da immer noch einen Schimmer Hoffnung, dass auch in und um Basel ein echter Aufbruch möglich ist – deshalb stimme ich für diesen Versuch einen neuen Kanton Basel zu gestalten.
cato meint
Lieber Herr Schafroth. Zunächst möchte ich festhalten, dass ich Sie zu den guten und fähigen Politikern zähle. Wenn sich viele solcher Persönlichkeiten bemühen und engagieren würden, könnte die Fusion möglicherweise etwas Positives bringen. Ich bin aber Realist und kann zu Ihren schönen und idealistischen Visionen nur mit Goethes Faust sagen: „Die Botschaft hör ich wohl, allein mir fehlt der Glaube.“
Hp. Weibel meint
Lieber Gerhard, ich wundere mich immer wieder über Deinen grenzenlosen Optimismus was die Qualität des politischen Personals betrifft. Selbst mit einer Handvoll Leute haben wir es nicht geschafft, in Finanzfragen zu überzeugen. Unser Kampf gegen die PK-Sanierung war erfolglos und die Folgen dieser damaligen Abstimmung, obwohl von uns vorausgesagt, zeigen sich erst langsam und vor allem in einer dunkelroten Aussicht, die höchstens noch vom Optimismus des Finanzdirektors überstrahlt wird und damit plötzlich nur noch hellrot erscheint. Dem Wähler mehr Sorgfalt bei der Wahl zu empfehlen, ist wohl eine ebenso unbeachtete und wirkungslose Empfehlung.