Als wir damals in die über hundert Jahre alte Villa einzogen, in das Haus mitten in diesem beeindruckend grossen Grundstück mit den hohen Bäumen, hatten wir so unsere Bedenken.
Wegen des Friedhofs gleich nebenan.
Das alte Herrschaftshaus gehört der Gemeinde, und das Land dient als Reserve, falls es auf dem bestehenden Friedhofsareal für neue Bestattungen keinen Platz mehr hat.
Aber da müsste wohl die Pest durchs Dorf.
Nach ein paar Wochen stellten wir eher überrascht fest, dass der Friedhof Bromhübel tatsächlich ein Ort der Stille ist. Ich habe keine Ahnung, wie oft dort Bestattungen stattfinden.
In all den Jahren, die wir dort wohnten, haben wir von den versammelten Trauergemeinden kaum je etwas gesehen oder gehört.
Damals in den Fünfzigern in Sirnach, Thurgau, wo ich meine Kindheit verbringen musste – Running Gag für Fans: Wäre es nach mir gegangen, wären wir in Freiburg geblieben –, in diesem Bauernkaff also gehörten das Sterben und der Tod zum Alltag aller im Dorf.
Da gab es den Bauern, der tödlich verunfallte, und die junge Frau, die im Feuer umkam, als die Scheune in Flammen aufging. Oder die Menschen starben, weil sie alt genug dafür waren oder krank.
Oder beides zusammen.
Ich erinnere mich noch gut an diesen toten Mann, sauber rasiert und im Sonntagsstaat, der Grossvater eines Schulkameraden.
Damit vor der Prozession durchs Dorf zum Friedhof hinter der Kirche auch Nachbarn und Bekannte von ihm Abschied nehmen konnten, wurde er auf dem Hof vor seinem Haus aufgebart.
Für uns war dieser offene Sarg weniger die Aufforderung, Abschied zu nehmen, als vielmehr eine Mutprobe. Wer getraute sich, vor all den im Kreis versammelten Erwachsenen nach vorne zu gehen, um einen Blick auf den toten Grossvater zu werfen?
Als die Älteren, die mehr Erfahrung in solchen Dingen hatten, alle schon reingeschaut hatten, war die Reihe an uns, den Frischlingen. Ich bin schnell hin zum Sarg und wieder zurück an meinen Platz; ich habe kaum richtig hingeschaut. Der Grossvater meines Schulkameraden war der erste Tote, den ich gesehen habe.
Als sich der Trauerzug in Bewegung setzte, läutete die Totenglocke der Dorfkirche.
Viele Jahre später habe ich als Hilfspfleger im Kantonsspital Liestal gearbeitet. Auf der medizinischen Abteilung ist der Tod allgegenwärtig.
In Erinnerung geblieben sind mir die beiden Bauernknechte.
Sie teilten sich für eine Woche das Zimmer und starben in derselben Nacht wenige Stunden nacheinander. Des einen Gesicht war in Bitternis erstarrt, so wie wir ihn in den letzten Tagen erlebt hatten, und vom anderen ging ein Strahlen aus, das alle Traurigkeit vertrieb.
Es schien, als hätte er die strahlende Tessiner Sonne gesehen, die Sonne in diesem Lied, das er in den letzten Tagen immer mal wieder anstimmte. Man musste sich zu ihm beugen, um etwas zu hören, weil ihm das Atmen so schwer fiel.
Alles Religiöse ist mir fremd geworden.
Besonders die Vorstellung, dass es ein Jenseits gäbe, in welcher Form auch immer. Wenn ich sterbe, dann bin ich tot. Für immer. Und die Reste meines Körpers werden Teil dieses Planeten.
Doch ein Teil von mir wird in meinen Kindern, Enkeln, Urenkeln und so weiter fortleben, bis nichts mehr bleibt.
Mit dieser Gewissheit werde ich den Zeitpunkt meines Todes selbst bestimmen, sofern mir nicht vorher ein Ziegelstein auf den Kopf fällt.
Was die Gesellschaft davon hält, ist mir egal.
Zuerst erschienen in der Basler Zeitung vom 16. Mai 2018
Egloff Alex, Arlesheim meint
Aber, aber Herr Messmer,
Sie haben etwas vergessen: neben dem Körper, gibt es auch eine Seele. Wie kommt – oder bringen Sie – diese zu Tode? Ah, zusammen mit dem Körper. Nicht etwas zu kurz gedacht?
Gutes Gelingen wünsche ich Ihnen