Heute ist wieder der Tag, an dem viel geredet wird über die Schweiz im Jetzt und in der Zukunft.
Am 1. August vor dem Höhenfeuer macht es sich gut, wie Herr Somm Bilder zu beschwören aus einer Zeit, als die Unverfälschtheit des Schweizer Seins an jeder Ecke der Innerschweiz mit Händen zu greifen war.
So ist das mit Mythen oder etwas weniger höflich ausgedrückt: wenn man sich während Jahrzehnten kollektiv in die Tasche lügt.
Die Schweiz ist nicht mehr das, was sie vor dem 21. Juni 1999 war.
Zuvor war die Welt zwar auch nicht mehr ganz so in Ordnung, hatte man zehn wirtschaftlich schwierige Jahre hinter sich gebracht. Doch man war zumindest noch Herr der eigenen Grenzen.
Im wörtlichen wie auch im übertragenen Sinn.
Damals konnte sich das Mehrheitsvolk aussuchen, wen man ins Land lassen will und wen nicht. Und für wie lange.
So hat man die Herrschaftslage zum eigenen Nutzen geregelt: Unten sorgten die Ausländer für die Verschönerung der Kulisse und oben buckelten die Schweizer vor den anderen Schweizer Männern, die in der Wirtschaft, dem Militär und noch immer in der Politik das Sagen hatten.
Das Ende dieser schweizerischen Ordnung ist am 8. Oktober 1999 eingeläutet worden. Die Bundesversammlung stimmte an diesem Tag dem
zu, das am 1. Juni 2002 in Kraft getreten ist.
Das Freizügigkeitsabkommen ist in seiner Wirkung der folgenreichste Vertrag, den die Schweiz mit der Europäischen Union abgeschlossen hat. Er hat in nur neun Jahren die Schweiz so tief greifend verändert, wie es zuletzt nur Napoleon geschafft hatte.
Denn nun sind die Grenzen für alle Arbeitnehmer der Union offen. Nicht mehr der Gewerbeverband und dessen Vertreter im Parlament bestimmen, wer in der Schweiz arbeiten und sich niederlassen darf.
Es ist dem einzelnen Ausländer, den Bürgerinnen und Bürgern der Europäischen Union überlassen, in die Schweiz zu kommen und hier ihr Glück zu finden, ganz im Sinn und Geist des Abkommens, welches
…in der Überzeugung, dass die Freizügigkeit der Personen im Hoheitsgebiet der anderen Vertragspartei wesentlicher Bestandteil einer harmonischen Entwicklung ihrer Beziehungen ist, entschlossen, diese Freizügigkeit zwischen ihnen auf der Grundlage der in der Europäischen Gemeinschaft geltenden Bestimmungen zu verwirklichen…
geschlossen wurde.
Und sie kommen.
Nicht wie früher die wenig gut Ausgebildeten, diejenigen aus Spanien, Portugal, Jugoslawien, welche während Jahrzehnten den Schweizern den Dreck wegputzten. Es kommen gut ausgebildete Handwerker, ehrgeiziges Hotelfachpersonal und vor allem: Es kommen Akademiker zuhauf.
Was ja ein gutes Geschäft für die Schweiz ist, schliesslich hat man sich in den letzten neun Jahren Dutzende von Millionen an Ausbildungskosten gespart, zahlen die Zuwanderer sofort gute Beträge in die Sozialversicherungen und in die Steuertöpfe ein. Ohne diese Zuwanderung stände die Schweiz heute nicht dort, wo sie wirtschaftlich steht, wäre der Schweizer Franken nicht hart wie Kruppstahl.
Die Welt der Schweizer ist seit 2002 aus den Fugen geraten. Zwar sind „unten“ noch immer mehrheitlich Ausländer, welche die Kulisse sauber halten und darunter „die Asylanten“, diese Fremden, die nur kosten und nichts bringen.
Doch auf dem Bürostuhl neben mir sitzt jetzt auch ein Einwanderer, einer aus der EU, oftmals einer aus Deutschland. Und oben, in der Chefetage auch und ebenso in deren Vorzimmern. Und in den Stäben, die denen oben zuarbeiten, auch, meistens Englischsprachige, weil Englisch auch in traditionsreichen Innerschweizer Firmen die Unternehmenssprache ist.
Sie sitzen auf den Professorensesseln, übernehmen die Chefarztpositionen, sind als Staatsanwälte beim Bund tätig, arbeiten als Kreative in Think Tanks, Werbeunternehmen, in Labors der Pharmaunternehmen und überhaupt: Immer öfters sind die Sprecher von Bundesämtern hörbar Hochdeutsche.
Das schweizerischste Unternehmen der neuen Prägung ist Google.
Die besten Quartiere und besonders schön gelegene Dörfer mit tiefem Steuerfuss sind inzwischen fest in ausländischer Wohnhand.
Damit beginnt ein Gefühl sich der Schweiz zu bemächtigen, dass so gar nicht zur auf Ausgleich bedachten Willensnation passen will: Neid.
Die Handwerker aus Ostdeutschland arbeiten schneller und gründlicher. Professoren aus dem Rheinland, aus Hamburg, aus Nordrhein-Westfalen übernehmen die Deutungshoheit über die Schweizer Geschichte, über die Schweizer Literatur, über die schweizerische Volkswirtschaft.
Und deren Kinder verdrängen die der Schweizer in den Zürcher Gymnasien, wie man kürzlich lesen konnte.
Kollektiver Neid ist das prägende Gefühl derjenigen, die sich in der Konkurrenz um Positionen, beruflichen Erfolg, schön gelegene Wohnungen, Numerus Clausus-Studienplätze zurückgesetzt fühlen.
Kollektiver Neid ist Ausdruck der Unterlegenheit, den die Nationalkonservativen politisch aggressiv bewirtschaften. Am Ende der Neidentwicklung steht die Vertreibung. Und steht der wirtschaftliche und moralische Untergang der Vertreibenden.
Statt Märchen aus dem Jahr 1291 zu erzählen, die glorreiche Grenzbesetzung heraufzubeschwören und damit so zu tun, als könne man das Rad der Zeit vor das Jahr 1999 zurückdrehen, wäre es wohl vernünftiger, den Tatsachen offen ins Auge zu blicken und das Beste daraus zu machen.
Politik, so wissen wir, hat jedoch nichts mit Vernunft zu tun. Politik die auf Angst und Neid setzt, erst recht nicht.
Es bleibt nur eines: Die Schweizer müssen sich dem Wettbewerb stellen.
Der beginnt in der Schule und hört auch im Berufsleben nicht mehr auf. Ehrgeiz, Leistungswille, Tatendrang müssen zu schweizerischen Tugenden werden.
Wäre doch gelacht, wenn das Erfolgsmodell Schweiz nicht noch die nächsten hundert Jahre ein Erfolgsmodell bliebe. Dank und mit den aus der Europäischen Union eingewanderten Citoyens.
PS: Ich empfehle im Kulturteil des aktuellen SPIEGEL den Essay von Götz Aly zu lesen: „Auf dem Boden des Neids“. Und dann noch die Gedanken von Gerhard Schwarz von Avenir Suisse:
Die Schweiz muss für Ausländer offen bleiben. Sie braucht sie für ihre wirtschaftliche Entwicklung. Sie darf aber von den Ausländern sehr wohl eine Integrationsleistung verlangen.
rumpelstilz2 meint
besser kann mans wohl nicht formulieren.aber wer soll dies nun den leuten sagen?Es ist gut,es steht hier im M.M. blog,aber gehörte doch in alle Winde geschrie(be)n.
Michael Przewrocki meint
All diese schönen Aussichten können nur erreicht werden, wenn die Gesundheit aller nicht vernächlässigt rsp. verbessert wird. Hat Avenir Suisse eigentlich hier auch Konzepte?
Gotte meint
sehr schöne erstaugustrede! wer svp wählt, wählt angst und neid. per 1. august dank intransparenten einzelspenden-millionen flächendeckend in die haushalte gestreut, ab 1. august an den lampenmasten des oberbaselbiets hängend: die neuste wahlkampf-luftnummer der mannen aus zürich, die ausser ihrem einwanderungs-retro-rezept gar nichts zu sagen haben zu den herausforderungen von gegenwart und zukunft.