Wenn sich Chinesen in Massen bewegen, tun sie das äusserst diszipliniert. Es scheint, sie sind nicht aus der Ruhe zu bringen. Gestern beispielsweise, diese Zugfahrt von Guilin nach Nanning. Wir waren schätzungsweise 2000 Leute in diesem Wartesaal.
Die Goldene Woche war vorbei, die Studenten mussten zurück in die Uni-Stadt Nanning.
Mit Verspätung öffneten zwei Bahnbedienstete zunächst die Glastüren und anschliessend die verchromten Absperrgatter. Und dann passierte einfach nichts. Zwar standen die ersten in den vier sich bildenden Schlangen ein, darunter die fünf Europäer.
Erst als die Lautsprecheransage erklärte, man könne jetzt einsteigen, setzten sich der Wartesaal in Bewegung.
Kein Drängeln, kein Stossen, kein Überholen.
Als alle eingestiegen waren, stand der Zug nochmals eine Dreiviertelstunde im Bahnhof. Jetzt muss man sich vorstellen, dass die Waggons nicht nur bis auf die letzte der Dreibanksitzreihe gefüllt waren, die Zugpassagiere standen auch in den Gängen zwischen den Sitzreihen links und rechts und überhaupt überall dort, wo man noch eine Lücke zum Hinstehen gefunden hatte.
Wären wir in der Schweiz, sagen wir im ICE von Zürich nach Basel, die Leute wären glatt ausgeflippt.
Das Eigenartige: man hat überhaupt nicht das Gefühl, es sei eng. Wer zum Beispiel auf die Toilette muss, und das muss auf einer siebenstündigen Zugfahrt ungefähr die Hälfte der Fahrgäste, schlängelt sich dem Gang entlang, die, die vor der Toilettentür stehen, treten einen Schritt zurück. Und dann das Ganze umgekehrt zurück.
Selbst die Kleinsten ergehen sich nicht in Zwängereien. Sie werden weitergereicht von der Mutter zum Vater und weiter zur mitreisenden Grossmutter. Und wieder zurück.
Doch damit nicht genug.
Ein Mann kommt vorbei – er trägt einen Ausweis um den Hals – und bietet Gürtel und Kinderspielzeug zum Kauf an. Er zieht dabei ein lautstarke Schau ab, wie der billige Jakob auf der Herbstmesse. Ein anderer verkauft Ladegeräte für Handys. Die Schaffnerin verkauft Esswaren, zum Beispiel Nudelsuppe. Für die muss man dann durch alle die Leute durch in den nächsten Wagen, um die Dose, so gross wie eine Popkornschachtel im Kino, mit heissem Wasser zu füllen. Und überhaupt packen dann irgendwann alle mal ihr mitgebrachtes Essen aus und es wird nach links und rechts verteilt. Später kommt wieder die Schaffnerin vorbei mit einem grossen Abfallsack und sammelt all den Müll ein, der von jeder Bankreihe säuberlich in einer Metallschale gesammelt wurde. Niemand nervt sich.
Man kommt ins Gespräch.
Weil irgend jemand immer darauf wartet, endlich mal das in der Schule und auf der Uni gelernte
Englisch anwenden zu können.
Nun ist es ja auf der anderen Seite so, dass ich vor Jahren mal zwei Jahre Chinesischunterricht genossen habe. Geblieben sind ein paar Sätze und Schriftzeichen. Doch in den nun drei Wochen, die wir in China waren, musste ich einsehen, dass ich kein einziges chinesisches Wort richtig aussprechen kann.
Nicht mal ein zweisilbiges wie Ruishi (Schweiz).
Das liegt an der Betonung und an der Tonlage. Die chinesische Grammatik ist relativ einfach, die Schriftzeichen logisch aufgebaut und weil es sich um Piktogramme handelt, könnte man sie selbst dann lesen, wenn man kein Mandarin spräche.
Eigentlich verhält es sich beim Chinesischen wie bei einem Notenblatt von Mozart.
Das sieht für den musikalischen Analphabeten ähnlich kompliziert aus, wie ein chinesisches Schriftstück.
Zwar kann ich lernen, wie man diese Noten liest. Doch eine andere Sache ist es dann, wenn ich die Noten vorsingen soll. Wenn ich nicht auf ein sehr gutes Musikgehör zählen kann, werde ich kaum je die exakte Tonlage treffen. Mein Vortrag würde also nach allem möglichen tönen, nur nicht nach Mozart.
Genauso verhält es sich mit der chinesischen Sprache.
Dieses Unvermögen hat Konsequenzen. Zum Beispiel, wenn man mit einem Taxi zu einem bestimmten Hotel fahren möchten. Es gelingt nie, einen im Grunde genommen simplen Namen wie „Jinhua Hotel“ so auszusprechen, dass ein Chinese das versteht.
Es bringt auch nichts, den Fahrern einen Screenshot des Hotelnamens auf Chinesisch zu zeigen. Oder gar GoogleMaps.
Die zeigen denn auch keinerlei Interesse, einen nachts um zehn auf dem immer noch belebten Bahnhofvorplatz einsteigen zu lassen. Ein energischer Herr rief für uns schliesslich ein Taxi und ein Polizist gab dem Fahrer den Auftrag/Befehl uns zum Jinhua Hotel zu fahren.
Heute Abend fährt unserWir sind im Zug nach Hanoi.
Stefan meint
Klasse Reise. Interessiert mich umso mehr, als ich letztes Jahr Saigon und Umgebung bereist habe und über den Jahreswechsel nach Shanghai und Südvietnam reisen werde. Wenn man sich traut, kann man auch mit Rollern reisen. Die reichen für das landestypische Tempo aus. Bilder und kurze Texte dazu habe ich auf meiner Seite fadingcolors.com zusammen gestellt.
Weiterhin gute Reise,
Stefan
Trashbarg meint
Der Vergleich der chinesischen Sprache mit Noten und Mozart, einfach exzellent!
Ich gehöre leider zu diesen Analphabeten, die weder ein Instrument spielen, geschweige denn Noten lesen können, also lass ich das mit der chinesischen Sprache gleich mal sein!
Trashbarg