Noch vor ein, zwei Jahren galt, dass in einer Krisensituation das Radio der Kanal der Behörden zur Information der Bevölkerung ist.
Wir erinnern uns an den Sandoz-Brand 1986 in Schweizerhalle – die lokalen Radiostationen verfügten über damals über das Informationsmonopol.
Wir haben gestern Nachmittag in der linken Spalte als Widget den Twitterkanal der Bostoner Polizei und des lokalen Verlagsmediums „Boston Globe“ eingebaut. Technischer Aufwand praktisch Null. Man muss lediglich die Twitter-Anschrift @Boston_Police einfügen. Und schon kann man den Live-Stream mitverfolgen.
In Boston haben sich in den letzten 24 Stunden auf der Strasse und in den Fahndungszentralen Szenen abgespielt, die wir vor zehn Jahren in der TV-Serie 24 als spannende Fiktion gesehen haben. Doch damals waren die Fahnder der Spezialeinheit von Jack Bauer unter sich, höchstens mal gestört durch ein paar Journalisten.
Nur Jack Bauers CTU (Counter Terrorist Unit) verfügte über Smartphones, um Terroristen real time verfolgen zu können.
Was die Macher der Serie nicht wissen konnten, dass zehn Jahre später mit noch leistungsstärkeren Smartphones ausgerüsteten Bürger zu Fahndern werden. Dank Twitter und anderen Social Media-Kanälen.
Wir lesen den live geschriebenen Fortsetzungskrimi, die einzelnen Kapitel zusammengefasst auf jeweils 140 Zeichen.
Der Kurznachrichtendienst Twitter ist in Ländern wie den USA, wo es eine hohe Dichte an Twitter-Usern gibt, zu einem Hauptinformationskanal geworden. Die Polizei verbreitet keine Medienmitteilungen mehr, sondern twittert. Und sie verfolgt den Live-Stream der anderen, kanalisiert in Hashtags z.B. unter #bostonterror oder #wegotthem.
Welche gesellschaftliche Folgen es haben wird, wenn sich Bürger zur digitalen Smartphone-Bürgerwehr versammeln – besonders in einem Land mit einer überdurchschnittlich hohen Privatwaffendichte – wird sich noch weisen müssen.
Doch Folgen für völlig Unbeteiligte hat die kollektive Jagd auf die Bombenleger auf jeden Fall.
Auf der Diskussionsplattform Reedit wurde unmittelbar nach den beiden Explosionen dazu aufgerufen, Bilder vom Tatort und dessen Umgebung hochzuladen.
Das führte dazu, dass in diesem Forum Leute verdächtigt wurden, die Bombenleger zu sein, die mit den Attentaten überhaupt nichts zu tun hatten. Dies wurde denn auch so festgehalten. Doch einzelne Medien hatten die Namen bereits verbreitet. Später mussten sie sich dafür entschuldigen. Andere, wie beispielsweise der Blick, haben die in die digitale Welt gesetzten falschen Namen kommentarlos wieder gelöscht.
Der Punkt ist, dass noch Jahre später in den Suchmaschinen deren Namen mit dem Bostoner Anschlag in Verbindung gebracht werden.
Kommen wir zum Schluss noch auf die obige Grafik zu sprechen. „We know when Dzhokhar Tsarnaev sleeps“ lautet die Überschrift zum Blogeintrag der Site Quartz.
Die Grafik ist eine Auswertung der über tausend Tweets des jüngeren Bruders des Attentäterduos. Die Erkenntnis:
What it tells us, quite mundanely, is that Dzhokhar stays up late, often smoking weed, and sleeps past noon. Like so many other college students.
Erkennbar ist ein Aktivitätenmuster: Je dunkler die Farbe desto aktiver war Tsarnaev auf Twitter. Und man erfährt Einiges:
Less than 12 hours ago, we had never heard of Dzhokhar Tsarnaev. Now we know that he did not like haircuts but did like Game of Thrones. We know he was a wrestler and that he won a $2,500 scholarship while at Cambridge Rindge and Latin School. We know he liked fast cars, ate lots of waffles, and probably used an iPhone from AT&T (but it broke in December).
Dieses und noch weiteres Datenmaterial wurde nicht etwa von Journalisten oder dem FBI zusammengetragen, sondern von irgendwelchen Internetusern.
And for all the myriad concerns about privacy settings, cookies, data protection, automated surveillance, and Facebook, we reveal immense amounts of information about ourselves publicly, unthinkingly, and sometimes involuntarily.
So läuft das heute. Tröstlich (derzeit noch):
We know when Dzhokhar sleeps but not what he dreams about.
Siehe auch: Boston manhunt complicated by Ustream, Twitter
New York Times: Social Media Profile des Verdächtigten
Gino Brenni meint
Guter Beitrag, danke! Gehe ich in der Annahme richtig, dass du diese grundlegenden Änderungen in der Fahndung wegen den Konsequenzen wie Falschbeschuldigung und digitale Transparenz, nicht befürwortest?
M.M. meint
Ich kann das verurteilen. Aber es ist nun mal, so wie es ist. Diese Entwicklung kann niemand mehr stoppen. Ausser alle kündigen ihre Social Media-Accounts bei Facebook, Twitter, Google+ und anderen.
Old (@trashbarg) meint
Das ist tatsächlich so, bedenklich, aber letztendlich von uns allen selbstverschuldet.