Im Januar lag meine statistische Lebenserwartung bei 86.6 Jahren. Auf ein solches Alter habe ich schon vor Jahren meine Lebensplanung ausgerichtet.
In groben Zügen.
Damals, im Januar in Kolumbien, haben sie und ich auf einem längeren Strandspaziergang festgestellt, dass die Zeit unserer grossen Reisen vorbei ist.
Wir haben in den letzten sieben Jahren all das gesehen, was wir uns anschauen wollten und was uns interessiert hat.
Es waren intensive, erlebnisreiche sieben Jahre.
Es waren die Jahre unserer „Farewell from the Planet-Tour“, ein Projekt, das wir mit 60 erstmals diskutiert hatten.
Alles fängt immer im Kopf an, den Rest ergeben die Umstände. Und das Erkennen von Opportunitäten.
Der Kreis sollte jetzt enger gezogen werden.
Ab Mai hatten wir eine mehrwöchige Reise im gemieteten Wohnmobil quer durch Europa vorgesehen: Der Balkan, später rauf nach Schweden und Finnland.
Letzte Woche haben wir den Vertrag definitiv aufgelöst, nachdem wir schon die Woche zuvor mit dem Vermieter über die aktuelle Entwicklung gesprochen hatten.
Wir waren vor zwei Wochen noch der, ich gebe es heute Sonntag offen zu, naiven Meinung, wir könnten statt im Mai, zum Beispiel im Juni oder Juli unsere Europatour starten.
Bis dann sei „die Sache“ ausgestanden.
Im Januar, in Kolumbien, lag, wie gesagt, meine statistische Lebenserwartung noch bei 86.6 Jahren. Wobei ich aufgrund eines sehr günstigen genetischen Erbes von 90+ ausgehen konnte.
Wie lange ich tatsächlich leben werde, hat mich deshalb noch nie wirklich gekümmert, sondern lediglich, wie kurz die Zeit bis zum finalen Ende sein wird, in der Krankheiten und körperliche Schwäche das Szepter übernehmen werden.
Im Januar war deshalb mein erklärtes Ziel für die nächsten zehn Jahre, bis zum Ende dieses Dezenniums, mir meine wirklich gute Gesundheit zu erhalten und weiterhin Woche für Woche intensiv an meiner körperlichen Fitness zu arbeiten.
Dann wäre ich achtzig und sehen dann weiter.
Vor zwei Wochen habe ich meine sportlichen Aktivitäten eingestellt, das Krav Maga-Training in Liestal und das Kraft- und Cardiotraining im Migros-Fitnesscenter an der Heuwaage.
(Gestern Abend kurz nach sieben wurde uns per E-Mail mitgeteilt, dass die Anlage an der Heuwaage ab heute auf unbestimmte Zeit geschlossen bleibt.)
Ich mache mir nichts vor: Anfangs März ist meine Lebenserwartung drastisch gesunken.
Ich rechne noch mit einem, zwei Jahre.
Weil die Zahlen nun mal so sind, wie sie sind, liegt die statistische Wahrscheinlichkeit, vom Coronavirus befallen zu werden, derzeit bei 60 bis 70 Prozent.
Und weil ich gemäss Passeintrag zu jener Altersgruppe gehöre, die mit Covid19 die weitaus geringsten Überlebenschancen haben.
Körperliche Fitness hin und gute Gene her, es ist das Immunsystem, dass bei allen im Alter messbare Defizite aufweist.
Ich mache mir nichts vor: Wenn die Fallzahlen in den Spitälern, wie in Italien, explodieren, gehöre ich zu denen, die in der Notfall-Triage nach links verlegt werden.
Weil lebenserhaltende Intensivmassnahmen, anders als bei den Jüngeren, in einer solchen Notlage keinen Sinn mehr machen.
Wir sind dabei, unser Leben radikal zu verändern.
Seit letzter Woche stückeln wir unsere Zeit in überschaubare kleine Einheiten. Ihr und mein Ziel ist es, bis Ende März coronafrei zu bleiben. Und danach bis Ende April.
Im Mai schauen wir mal.
Diesem Ziel ordnen wir alles unter. Kompromisslos.
Das tönt aber schrecklich pessimistisch, wird man jetzt denken. Schrecklich? – mag sein, pessimistisch? – nein.
Die Welt, wie meine Generation sie kannte, geht gerade unter. Wie es aussieht, wir mit ihr.
Vielleicht ist das gar nicht mal schlecht.
Christoph Meury meint
Früher hat ER sich über die Klima-Apokalyptiker lustig gemacht, die Sache für übertrieben gehalten und als Geschäftemacherei abgetan, jetzt sieht ER der eigenen Mortalität beim morgendlichen Rasieren ins Gesicht, jammert und verbreitet Untergangsstimmung.
Der Zyniker würde aktuell lediglich folgern, dass die Natur das Heft nun offensichtlich selber in die Hand genommen und uns ein robustes Virus geschickt hat, um Remedur zu schaffen.
In China hat sich das Klima, nachdem die Wirtschaft stillsteht, merklich verbessert. Luftbilder beweisen dies. Also werden die Menschen zwar unmittelbar hops gehen, aber die Erde wird’s überleben und das Klima wird sich genüsslich erholen. Der Lauf der Dinge, halt.
Natürlich wird es nicht so dramatisch sein, wie uns die Pessimisten beliebt machen wollen. Aber vielleicht ist der Schock heilsam. Hoffentlich ein wenig. Als kleines Vergleichsbeispiel: In der Schweiz sterben jedes Jahr etwa 60’000 Personen; 9’500 davon gehen als notorische Raucher über den Jordan. Da kräht kein Hahn danach.
Für MM: Ob er im Balkan, in Schweden oder Finnland in die ewigen Jagdgründe abdüst, ist vermutlich gleich weit entfernt, wie von Arlesheim aus. Da er sowieso ohne Gepäck geht, ist das auch kein logistisches Problem. Auch die statistische Lebens- oder Mortalitätsrate kann ihm dann wurscht sein. Warum soll man sich den Lebensfreuden deswegen entsagen und Trübsal blasen?
Michael Przewrocki meint
Bei mir auch 90+ wohl wegen Urgrossmutter -38Jahre jünger. NB: Soeben Aufreger an der Haltestelle gegenüber. Junge küsst offenbar Ältere Dame auf Wangen. Und an der nahen: Jugendliche umarmen sich. Dumme Sprüche von Balkanbubengruppe im Oberbaselbiet wegen meiner Maske. Trag diese jetzt konsequent. Handschuhe sowieso.
apropos Reisen: da die neuen Scanner Filme zerstören machen Flugreisen-egal wie günstig-für mich der wieder analog aufleben will-keinen Sinn. In meine Ex-Heimat gibts direkten Flug. auch an die kroatische Adria. Die Hermitage in Arlesheim ist nicht überlaufen aber soll bald saniert werden.
Sissachr meint
On verra! Und ansonsten, etwas angepasst an Douglas Adams „Farwell – and thanks for all the fish!“:
Machen Sie’s gut – und danke für all die guten Texte!
Noël Fasel meint
Selten so laut gelacht! Danke, das war wirklich treffend. Nicht das mit den „guten“ Texten, das ist im Grunde lässlich. Aber Adams zu zitieren, in diesem Zusammenhang … Ich liebe diese Ironie! Nocheinmal: Danke.