Die Jungsozialisten haben recht. Die bürgerliche Ehe gehört abgeschafft. Punkt.
Man kann sich empören, man darf es bedauern, man mag mit neuen Gesetzen retten wollen, was nicht zu retten ist. Doch wer vernünftig denken kann, muss einsehen, dass das goldene Zeitalter der bürgerlichen Liebesehe zu Ende ist. Dieses brach erst nach dem Zweiten Weltkrieg aus, begleitet von rührseligen TV-Serien. Das Durchschnittsalter der Eheschliessung sank drastisch, weil sich die neue Generation dank Hochkonjunktur früh einen eigenen Hausstand leisten konnte. Obwohl der Dreiklang aus gebilligter Sexualität, blitzblankem Haushalt und reichlich Nachwuchs bereits Ende der 60er-Jahre sichtbar Risse zeigte, prägt diese kurze Periode noch heute die Vorstellung davon, was «Ehe» sein soll.
2010 betrug die Scheidungsrate in der Schweiz 54,4 Prozent und ist offiziell bis 2014 auf 40,3 Prozent gesunken. Doch dieser Lichtblick ist keiner. Die besseren Zahlen sind einem Systemwechsel geschuldet: Seit 2011 werden Scheidungen unter Ausländern statistisch nicht mehr erfasst.
Nun war es schon immer so, dass ein frei gewähltes und ebenso gestaltetes Sexualleben zwischen wem auch immer den Nachbarn und der staatslenkenden Obrigkeit suspekt war. Weshalb die Institution Ehe zum Ziel hatte, die Sexualität junger Frauen zu kontrollieren und jene der Männer zu kanalisieren. Die Ehe und Familie war bis zur Einführung des Sozialstaates die wichtigste Solidargemeinschaft. Eheliche Kinder wurden anerkannt, ledige Mütter gesellschaftlich geächtet. Und noch immer ist die Ehe verknüpft mit der Rollenteilung der Geschlechter: Sie ist zuständig für Haushalt und Kinder und er sorgt für den materiellen Unterhalt.
Im Mittelalter galt das – zumeist arrangierte –Zusammenleben zwischen Mann und Frau als zweitrangig. Als Ideal für ein gottesfürchtiges Leben galt das Zölibat. (Damals gab es noch keine Schwulen und Lesben. Ähem.)
Ausgerechnet mit der Liebe als inzwischen wichtigstem Antrieb für die staatlich sanktionierte Paarbildung begann der Niedergang der Ehe als Institution. Denn die Kombination von Gefühlen und institutioneller Norm ist der Versuch zur Quadratur des Kreises. Was in den hohen Scheidungsraten manifest wird. Und inzwischen ist erst noch unbestritten, dass sich auch gleichgeschlechtliche Menschen plus Bi- und Trans- und Asexuelle – habe ich jemanden vergessen? – verlieben können, weshalb nicht einzusehen ist, wieso man ihnen die Institution Ehe verwehren soll.
Klar, die Begründung der Juso zur Abschaffung der Ehe von wegen «Überwindung des Sexismus», «Befreiung der Frau», gepaart mit «Überwindung des Kapitalismus» ist Bullshit. Doch im Kern liegen sie richtig: Der logische Schluss aus der aktuellen Diskussion – mit immer neuen Varianten für entflammte Minderheiten – ist die Abschaffung der Ehe.
Der liberale Standpunkt: Der Staat soll sich nicht mehr ins Zusammenleben zweier Erwachsener einmischen und eine wie auch immer gestaltete Partnerschaft zur Privatsache erklären. Wie zur Zeit der Römer können rechtsverbindliche Aspekte des Zusammenlebens der Partner in einem Vertrag geregelt werden, notariell beglaubigt. Was den Vorteil hat, dass das Gefühlsduselige von den rechtlichen und möglichen späteren materiellen Konsequenzen der Paarbildung getrennt wird. Der Staat wird aus der Haftung für die Folgen des Liebeslebens seiner Bürger entlassen.
Zuerst erschienen in der Basler Zeitung vom 10. Juni 2015
Trashbarg meint
Amen
h.s. meint
Die Ehe ist nichts anders als ein staatlichen Standardvertrag. Wer sich ein bisschen international umzieht, stellt fest, dass diesen Standardvertrag in die verschiedenste europäische Länder unterschiedlich ausgestaltet ist. Ein Ehe in die Niederlande ist anders geregelt als in die Schweiz. Auch die Vertragsaufhebung (vulgo Scheidung) ist Europaweit unterschiedlich geregelt (sogar zwischen die verschiedenste US-Staten). Daher wählen Frauen häufig London, New York oder California als Scheidungsort, Männer neigen dazu Länder zu wählen wie Deutschland, Texas usw.
Wenn die Ehe abgeschafft wird, bedeutet dies nur, dass Notare Standardverträge machen, welche man abschliesst. Ich sage mal vorher, dass es die Stärkere und nicht die Verworfenen der Erde sind die damit gewinnen. Wir können über den Inhalt des Standardvertrags unterschiedliche Meinung sein oder über wer es abschliessen darf aber zum Schutz der Schwächere sind staatliche Grundregeln wie beim Arbeitsvertrag, Mietvertrag und andere Vertragsformen zu befürworten.
Sissachr meint
Stimmt, das mit dem Standardvertrag ist eigentlich eine gute Sache. Nur: Wieso hat der Gesetzesgeber, dieser Romantiker, nicht einfach auch die Aufhebung des Vertrages etwas besser geregelt? Für jede Scheidung – sind doch einige, gell? – braucht es zwei Anwälte und ein Gerichtsurteil, weil nichts standardmässig geregelt ist, was Kinder, Gelder und den gemeinsamen Zimmerbrunnen anbelangt.
Gut wäre schon, wenn sich da die helleren Köpfe in unserem Land mal was dazu denken würden.
h.s. meint
@Sissachr: Die Scheidung kann in viele Fälle viel einfacher. Enige europäische Länder haben bereits einfache Scheidungsregeln eingeführt, wenn die Partner einverstanden sind und bestimmte Grundregeln eingehalten werden. Dann kann die Scheidung durch ein Zivilstandsbeamte durchgeführt werden. Kostengünstig und schnell
Wie ich immer wieder darlege: Ich bin nicht schlau genug um ein Rad zu erfinden. Aber Cntr-C, Cntr-V beherrsche ich. Auch die Politiker sollten öfters kopieren was in andere Länder funktioniert. Aber ich glaube nicht dran, dass Politiker bei einem Problem sich erst bei dem Anderen informieren. Die wollen das Rad selber erfinden.
Rudolf Mohler meint
Ehe abschaffen? Als Gedankenspiel absolut zulässig.
Allerdings sollte man sich mit den Grundlagen und den Folgen schon gründlicher auseinandersetzen, als es bei den Jusos, im Messmer-Beitrag und in einigen vorstehenden Diskussionsbeiträgen erfolgt ist.
Nur ein paar Streiflichter: Zunächst sind Messmers Ausgangsangaben völlig falsch. Das Konzept der „Liebesheirat“ entstammt nicht der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, das entstammt der Epoche der Romantik. Und die setzt man an von Ende des 18. bis gegen Mitte des 19. Jahrhunderts. Das Zusammenleben von Mann und Frau war im Mittelalter alles andere als zweitrangig. Über Jahrhunderte war die Eheschließung ein ganz zentrales Geschäft, das dem Erhalt und der Entwicklung von Vermögen, Macht, Dynastie und sogar Staaten gewidmet war. Das war tatsächlich nicht das Konzept der „Liebesheirat“. Aber es war die zentrale Form der kleinzelligsten Organisation des menschlichen Zusammenlebens und bildete – und bildet es auch heute noch – über Jahrhunderte das Rückgrat von Gesellschaft, Wirtschaft und Staat. Das hat unendlich viel konditioniert, das heute im modernen Sozial- und Versorgungsstaat grundlegend ist. Und all das müßte stringent mitgezogen und komplett erneuert werden: Familienrecht, Erbrecht, Steuerrecht, Arbeitsrecht, Obligationenrecht, Sozialleistungsrecht, und alles, was mit der Führung und Betreuung der Heranwachsenden zu tun hat. Das betrifft auch das Strafrecht und vermutlich auch Rechtsfelder, auf denen wir es auf Anhieb nicht einmal vermuten würden (möglicherweise Prozeßrecht, Verwaltungsrechts und, und, und). Zudem würde es eine Großbaustelle in der Frage aufreißen, wie sich weltliches und kirchliches Recht sich zueinander verhalten. Ein Thema, das heute schon einige Problemzonen kennt. Daß für viele dieser Anpassungen in unserem Verständnis von Rechtsstaatlichkeit zuerst die Schaffung von entsprechend Verfassungsgrundlagen vorausgehen müßte, ist zwingend. Hei gibt das in unserer direkten Demokratie ein Juristen- und ein Abstimmungsfestival am laufenden Band!
Wer alle diese Aspekte nicht mit bedenkt und entsprechend neu gestalten will, der plädiert für jahrzehntelanges Chaos in unserer ganzen Rechts- und Gesellschaftsordnung.
Fast in allen bekannten Kultur- und Gesellschaftsordnung haben sich über Jahrtausende – und das völlig unabhängig voneinander – geregelte und auf Dauer angelegte Paarbeziehungen herausgebildet, die monogam waren. Dann gibt es auch noch Kulturkreise, in denen diese Beziehungen polygam waren und heute noch sind; aber bitte beachten: es waren und sind auf Dauer angelegte Beziehungen. Was die Jusos fordern, entfernt sich komplett von dieser Konstante.
Aber eines bleibt: Es ist doch kaum denkbar, daß sich über Jahrtausende unzähligste Kulturkreise in ihrer Entwicklung vollständig geirrt haben können.
Zum Schluß: In einem Punkt bin ich dann wieder ganz bei Messmer: «Überwindung des Sexismus», «Befreiung der Frau», «Überwindung des Kapitalismus» als Grund oder Ziel für die Abschaffung des Instituts Ehe ins Feld zu führen, ist Bullshit. Es ist sogar ein bißchen mehr, es ist dumm.
Fredreg meint
Was der Sinn der Ehe als Romantikgarant angeht (Kombination von Gefühlen und institutioneller Norm) – einverstanden.
Doch dadurch die Ehe grundsätzlich in Frage zu stellen ist – mit Verlaub – Quatsch.
Der Staat braucht stabile Paarbeziehungen, weil er stabile Elternbeziehungen braucht. Damit der Sozialstaat funktionieren kann, braucht er nämlich gesunde Kinder, die ihn später finanzieren. Und die wachsen erwiesenermassen am besten in möglichst gesunden, stabilen Verhältnissen heran.
Der Sinn der Ehe war es deshalb schon immer, Kindern ein Aufwachsen in möglichst stabilen Verhältnissen (früher war das in der Grossfamilie, nicht in Paar+Kind-Familien) zu ermöglichen. Das Ziel hat sich also nicht geändert: Stabile Verhältnisse für gesunde Kinder, um einen angenehmen Lebensabend ermöglichen. Sozusagen, dass man das Gute ernten darf, was man gesät hat.
Die Form der Ehe in Frage zu stellen, mag deshalb sinnvoll sein. Doch deren Zweck und Ziel sollte nicht aus den Augen verloren werden.
U. Haller meint
Völlig einverstanden! Ich stehe eh schon längst für eine komplette Trennung von Staat und Kirche ein. Der Staat hat keine kirchlich fundierten Dekrete und Dogmen zu vertreten, sondern soll hier Rahmenbedingungen schaffen, innerhalb deren sich die Gesellschaft in all ihren Facetten bewegen kann. Um »Werte« – was auch immer darunter verstanden werden kann – dürfen sich gerne die Kirchen resp. klerikalen Institutionen im Land kümmern. Der Staat hat meines Erachtens nicht als Moralapostel zu walten. Demzufolge hätte ich z.B. nichts gegen eine (staatliche) Ehe für alle einzuwenden. Dass der Katholizismus (und wohl auch andere Religionsgesellschaften) so etwas aufgrund ihrer Dogmen ablehnen, mag ja aus dessen Optik durchaus verständlich sein. Doch es sind glücklicherweise nicht alle in einem solchen religiösen Korsett gefangen. Wer das mit seinem Glauben oder seiner persönlichen Überzeugung nicht vereinbaren kann, braucht eine solche nicht-traditionelle Konstellation auch nicht einzugehen. Und alle anderen wären glücklich, dass die Schweiz eben doch fortschrittlicher ist als gemeinhin angenommen.
PS Mit den Jusos habe ich zwar nichts am Hut, finde es aber dennoch goldrichtig, dass sie einmal eine solche Diskussion lostreten. Und wohl auf ganz gehörigen Granit beissen werden.
Marc Schinzel meint
@Haller: Um Missverständnissen vorzubeugen: Die staatliche Ehe ist ein zivilrechtliches Institut, das mit der Kirche nichts zu tun hat. Eine kirchliche Trauung oder irgend eine andere religiöse Trauungszeremonie ist nicht erforderlich, um eine Ehe eingehen zu können.
Gregor Stotz meint
Ich meine erster Schritt wäre die eingetragene Partnerschaft für ALLE.
fullfrontalawkwardness meint
Bravo! Einfach nur gut geschrieben.
lha meint
was für ein absurdes argument. die abschaffung der ehe hat jetzt aber rein gar nichts mit wertezerfall zu tun. das institut einer vertraglich geregelten beziehung gäbe es ja weiterhin. es geht hier lediglich um die frage, ob partnerschaft eine privatrechtliche oder öffentlich-zivilrechtliche angelegenheit ist. die ehe, wie wir sie als christlich-abendländische erfindung kennen, ist zuallererst mal ein krichliches herrschaftsinstrument über die menschliche sexualität. spätestens mit der aufklärung hat sich das mündige bürgertum von solchen zwängen aber eigentlich befreit. der diskurs über werte/sex/ehe ist evolutiv, veränderung ist unabdingbar. was für den einen zerfall sein mag, ist schlicht ein wandel. und was bitte soll eine grundwahrheit sein?
Herrmann Elig meint
Abschaffen geht nicht. Ersetzen schon. Und da sind heute doch noch sehr viele Teufel in den Details. (Ab wann ist ein Konkubinat ein Konkubinat? Besuchsrecht am Krankenbett? gemeinsame Kinder? undsoweiter.) Das wird interessant – wenigstens für die Juristen.
Lustigerweise dürften das die bis dahin ErwachSos mitregeln 🙂
Marc Schinzel meint
Die Abschaffung der Ehe ist ein Nichtthema. Ein Freiheitsgewinn resultierte daraus nicht, denn wir haben schon heute völlige Wahlfreiheit. Niemand wird vom Staat gezwungen, eine Ehe einzugehen. Heute kann ich mit beliebigen Partnern in beliebiger Zahl zusammenleben, wie, wo und wann ich will. Ich kann in einer grossen Kommune mit Homo- und/oder Heterosexuellen leben und Kinder haben. Und ich kann in all diesen Beziehungsgeflechten alle möglichen vertraglichen Vereinbarungen treffen. Niemand verbietet das. Allerdings hat eben jedes Tun Folgen, ganz gleich ob der Staat reguliert oder nicht, ganz gleich, ob der Staat das Institut der Ehe vorsieht oder nicht. Das wird heute oft vergessen. Würden wir die Ehe abschaffen, müsste sich der Staat wohl in noch grösserem Umfang als heute um Hinterlassenschaften zerbrochener Beziehungen kümmern. Wenn Kinder da sind und plötzlich auf der Strasse stehen, weil irgendwelche privaten Vereinbarungen nicht eingehalten werden oder halt gar nie existierten, wird sie die öffentliche Hand kaum ihrem Schicksal überlassen. Dieser „Service public“ dürfte erheblich weniger umstritten sein als der von der SRG erbrachte …
gotte meint
räusper…Sie wollen uns aber nicht ernsthaft sagen, dass heute die kinder deshalb nicht „auf der strasse stehen“, weil es das institut der ehe gibt? Und Sie wissen schon, dass ich, sobald kinder da sind, eben gerade nicht „alle möglichen vereinbarungen“ privat treffen kann? – ich komme bei der ehedebatte nicht aus dem staunen raus – ich lese viel, aber kaum je das, was die bezeichnung „argument“ verdiente.
Marc Schinzel meint
@Der wichtige Punkt ist eben der, dass der Staat mit dem Eherecht ein rechtliches Auffangnetz geschaffen hat, das immer dann zur Anwendung kommt, wenn privat gar nichts oder völlig Ungenügendes vereinbart wurde. Das System funktioniert leidlich gut. Um Regelungen, auf die man subsidiär zurückgreifen kann, ist man froh, wenn es Probleme gibt. Die staatlichen Regelungen sind übrigens sehr wohl auch individuell abänderbar (Güterstand, Erträge auf dem Einkommen, Erbrecht). Das Argument der hohen Scheidungsrate spricht nicht gegen die Ehe: Viele, die eine Scheidung durchmachen, sind froh, wenn klar ist, nach welchen Regeln die güterrechtliche Auseinandersetzung erfolgt. Das gilt namentlich für den Teil, der finanziell weniger gut abgesichert ist (das ist heute nicht mehr einfach die Frau). Viele ad hoc-Partnerschaften wären froh, sie könnten auf eine subsidiär geltende Regelung zurückgreifen, wenn sie sich auseinanderleben. Wer auf Wolke sieben schwebt, denkt häufig nicht an weniger romantische Stunden.
Meury Christoph meint
Wenn die Abschaffung zum Untergang des Abendlandes und der westlichen Zivilisation führen würde, wäre ich für das Experiment und plädiere ab sofort für die Eliminierung der Ehe. Nur so können wir unser Endzeit-Krisenmanagement testen. Das wird lustig. Endlich wirklich Äktschen…
Bei der aktuellen Scheidungsrate von über 50% ist diese Institution sowieso nicht mehr zu halten.
Raphael meint
1. Ehe ist älter als die Nachkriegsgeneration
2. Die Argumentation zur Abschaffung der Ehe überzeugt mich nicht. Dies ist einfach eine Folge vom allgemeinen Wertezerfall. Niemand will mehr Basiswerte und Grundwahrheiten anerkennen. Weil tausende jährlich beim schnell fahren erwischt werden sollte man auch die Geschwindigkeitsbegrenzung abschaffen (fühle mich da eh stark in meiner Freiheit eingeschränkt). Weitere Themen sind Inzest, Pädophile und andere die wohl in den nächsten Jahren auch zur Diskussion gestellt werden. Ich frag mich wo das alles noch hinführt…
M.M. meint
Zum Untergang, klar doch.