Für „uns im Westen“ gilt die Demokratie als Mass aller politischer Dinge.
Die direkte Demokratie à la Suisse ist darauf die luftig geschlagene Crème double.
Der ganze Rest der Menschheit lebt mit anderen Systemen, die meisten Menschen gar nicht mal so schlecht.
Ich habe so meine Zweifel, ob auch in Zukunft die direkte Demokratie das beste aller Systeme darstellt.
Ohne damit mit irgendwelchen autokratischen oder semidemokratischen politischen Organisationsformen zu liebäugeln.
Und schon gar nicht mit benevolent dictatorships oder gewählten Autokraten wie Trump und Johnson.
Doch schauen wir uns die Vorlagen vom 27. September an.
Vaterschaftsurlaub – nach klar doch, oder? Kostet nur 30 Millionen im Jahr. Und bringt die Männer endlich an den Herd (im übertragenen Sinn).
Höherer Steuerabzug für Kinder, aber klar doch, kostet ja nur, ja wieviel eigentlich? Und bringt die Frauen zurück in die Arbeit.
Mit der Begrenzungsinitiative der SVP, allein schon wegen den drei Majuskeln igitt, drohen wirtschaftliche Turbulenzen mit der EU.
Oder auch nicht.
Was haben wir noch, ah ja, das Jagdgesetz. Man könnte es so auf den Punkt bringen: Warum soll man den Jägern einen Freipasse fürs Wölfeschiessen geben, wenn die Schafbesitzer zu faul sind, um zu ihren Tieren zu schauen.
Oder keine Herdenhunde einsetzen wollen, weil sie nur in Schafen denken können.
Und dann noch die Kampfjets: Ohne neue Überschalljäger keine Luftwaffe, ohne Luftwaffe keine Schweiz.
Oder andersherum.
Je nach politischem Standort läuft die Meinungsfindung (welch treffendes Wort) entweder so oder so.
Oder, bei der Mehrheit, auch gar nicht.
Mit Verlaub, dieses Prozedere tönt mehr nach einem Blindflug als nach einer Entscheidungsfindung im 21. Jahrhundert.
Ein wichtiger Pfeiler schweizerischer „Meinungsbildung“ vor Abstimmungen ist schon vor geraumer Zeit weggebrochen: Die Presse.
Damals, als die Abstimmungswelt noch in Ordnung war, bewegten sich die Direktdemokraten in den Filterblasen der Parteipresse.
Und meinten dann nach zwei, drei Artikeln zu Wissen, was gut fürs Land sei. Nämlich das Gegenteil dessen, was die anderen behaupteten, die Sozis und die Kommunisten.
Oder die Bürgerlichen.
Es gilt das Axiom: Jeder (politische) Entscheid hat unerwünschte Nebenwirkungen.
Wenn es also um komplexe Abstimmungsvorlagen geht, die auf den ersten Blick schwarz/weiss scheinen, kann niemand die Konsequenzen voraussagen.
Weil heutzutage nichts mehr schwarz/weiss ist.
Weshalb niemand voraussagen kann, was nach einer Annahme/Ablehnung der Vorlagen vom 27. September tatsächlich geschieht. Nicht nur am anderen Tag, sondern in den nächsten Jahren.
Welchen Kollateralschaden ein Ja oder ein Nein anrichtet.
Die EWR-Abstimmung 1992 hatte zur Folge, dass, anderes als behauptet, in unserem Verhältnis zur EU nichts geklärt wurde, dass wir seitdem in einer täglich-grüsst-das-Murmeltierschlaufe festsitzen.
Der Begriff „Alleingang“ ist schon kurz danach aus dem politischen Alltag verschwunden.
Wenn ich, als wahrscheinlich überdurchschnittlich interessierter Bürger, die Abstimmungsdiskussionen am Radio und Fernsehen verfolge, noch ein paar Meinungsbeiträge und Hintergrundinformationen von Onlinemedien lese und dazu ein paar Twitter-Stimmen zur Kenntnis nehme, komme ich vielleicht auf zehn, vielleicht fünfzehn Meinungs- und Informationsbeiträge.
Plus das Abstimmungsbüchlein.
Mit Verlaub, das ist schlicht zuwenig und zu analog, um ernsthaft über Dinge mit einer Langzeitwirkung zu befinden.
Die Frage ist also, mal so in die Runde geworfen, ob sich das direktdemokratische System in unserer komplexen Welt überhaupt noch länger als geeignetes Instrument wird halten können.
Die Corona-Krise hat gezeigt, dass heutzutage ausserordentliche Lagen nicht mal mehr föderalistisch organisiert bewältigt werden.
Das dabei grösste Problem, hat man inzwischen dank dem Bundesamt für Gesundheit erkannt, ist die völlig ungenügende Datenerfassung und -auswertung.
Weshalb man, übertragen auf politische Prozesse, festhalten kann: Uns fehlen für Abstimmungen die Daten und die Methodik, um mit Computersimulationen die möglichen Folgen von Abstimmungsszenarien durchzuspielen.
Um Entscheidungsgrundlagen zu erhalten, die fakten- und nicht bauchgesteuert sind.
Es fehlt die Vorstellung dafür, wie sich direktdemokratischen Meinungsprozesse durch effizientere Konsenfindungen ersetzen liessen.
Die Frage stellt sich: Ist die direkte Ja-Nein-Demokratie in dieser multiplen Problemwelt überhaupt noch zukunftsfähig?
Marc Schinzel meint
Nein, es gibt m.E. keine gute Alternative zu den direktdemokratischen Volksentscheiden. Wohl gäbe es ExpertInnen, die sich eingehend mit der Vorlage befassen. Das sind v.a. diejenigen, die sie ausarbeiteten oder diejenigen, die sich kritisch damit auseinandersetzen. Die haben eine “Fachperspektive.“ Diese ist aber nie unparteiisch und kann von der Optik her auch relativ eng sein. Schon die Regierungen befassen sich dann nicht mehr in aller Tiefe mit einer Vorlage, denn sie haben viele auf dem Tisch. Sie können aber hoffentlich die strategische Bedeutung einigermassen einschätzen. Fazit: Die stimmberechtigte Bevölkerung, die sich aus diversen Quellen informiert bzw. informieren kann, steht im Vergleich nicht so schlecht da.
Arlesheimreloadedfan meint
Die direkte Demokratie machte den Bau dreier Basistunnels möglich.
Bei unserem nördlichen Nachbarn sehe ich nur bei den Rechtsextremen Wachstum!
Während die Baustellen von Berlin bis Rastatt ein Trauerspiel sind.
Dürfte doch auch mit unserer direkten Demokratie zusammenhängen.
In meinem 71 Jahren waren viele Wahlen und Abstimmungen Bauchentscheide.
Im Notfall hat die Schweiz aber immer auch schnell reagiert.
Beispiel: Sommerzeit !
Steven meint
1. Historisch ging es um die Volkssouveränität. Das Volk selbst ist der Souverän im Land.
2. Jede Entscheidfindung ist am Ende willkürlich, unreif, beliebig.
3. Die direkte Demokratie wirkt dort, wo man sie gar nicht sieht (präventives Element):
a. Damit es erst keine Volksabstimmung gibt, wird jede Entscheidfindg vorab ausgelotet.
b. Damit werden die Sachverlagen von möglichst viel Egosimen/Lobbyismen befreit sind.
c. Im Kopf jedes Beatmen, Politikers, Bürgers, Unternehmers der weiss, dass er es nicht übertreiben darf.
d. Sie macht die Schweizer egalitär.
e. Sie gibt wenig Raum für Verschwörungstheoretiker.
f. Das Volk ist viel unbestechlicher als eine Handvoll Entscheider.
Sehe folgende Probleme:
– Fehlender öffentlicher Raum für Debatten.
– Unprofessionalität: Schlechte Entschädigung/Schlechter Ruf/zu zeitinrensive öffentlicher Ämter: z.B. max. 50 Landräte, mit max. 10 Situngen pro Jahr und Entschädigung von mind. 5000 Franken pro Sitzung -> Das Personal und die Debatten wären komplett anders und alles erst noch günstiger.
–
Franz meint
1. Wohlstand
2. Wenn man dann noch über die Farbe des Briefkasten abstimmen kann ist das dann die Kirsche auf der Torte.
Wolfgang Schmelzinger meint
Da kann ich in vielen Dingen zustimmen. Die lange geübte Demokratie funktioniert nicht mehr. Seit www mischt die „schweigend Mehrheit“ mit. Die, die größtenteils hätten schweigend bleiben sollen. Da hats eine gestandene Diktatur wie China einfacher. Aber gibt es für eine sich zunehmend als dekadent und unreif darstellende Gesellschaft alternative Vorschläge oder Ideen? Ich habe keine, würde aber gerne König von Deutschland sein…