Was ist anders in Russland? Nun, hier stehen einfach noch immer wesentlich mehr Leninstatuen rum als bei uns. (Plus ein Standbildzar in Irkutsk, dessen Sturz vom Sockel man seinerzeit wohl vergessen hat.)
Aber das war’s dann schon mit der kommunistischen Nostalgie.
Klar ist es hier anders als bei uns. Binsenwahrheit.
Der Punkt ist jedoch, dass Russland völlig anders ist als ich es erwartet hatte. Mein vom Kalten Krieg und langen Jahren ARD- und SRF-Tagesschau geprägtes Russlandbild liegt in Trümmern.
Das Russland, das ich gesehen habe, ist bis Irkutsk ein europäisches Land wie die anderen europäischen Länder auch.
Selbstverständlich sind mir die geografischen, die politischen und historischen Zusammenhänge bekannt. Trotzdem ist mir in den letzten Tagen auf ausgedehnten Spaziergängen in Moskau, Kazan, Novosibirsk und heute wieder in Irkutsk die Frage durch den Kopf, warum Russland nicht mal in einer Fussnote als Beitrittskandidat zur europäischen Union auftaucht.
Ich meine, wenn man die Türkei nach Europa holen will, warum nicht Russland?
Womit ich nochmals mit anderen Worten gesagt habe, dass sich mein Russlandbild in diesen letzten Tagen komplett verändert hat.
Diese Menschen hier sind mir, anders als ich es erwartet habe, nicht fremd.
Geht’s den Leuten gut?
Wie soll man eine solche Frage als Bewohner der Insel der Glückseligen schlüssig beantworten können?
Was ist der Massstab?
Der Lohn eines Lehrers, sagt heute auf der Rückfahrt nach Irkutsk unser Tourguide, beträgt 26’000 Rubel im Monat. Das sind umgerechnet 739 Schweizer Franken oder 597 Euro.
Das sei aber wenig, meinte dazu der Rentner aus München, der mir gestern bei einem Bier erklärt hatte, sein gesamtes Renteneinkommen betrage 1.300 Euro (1’600 Franken) im Monat. Und darauf bezahlt der Mann auch noch Steuern.
Ich meine, da hatte ICH kurz mal leer schlucken müssen.
Wenn ich also das „Strassenbild“ als Massstab nehme – die Autos, wie sich die Leute kleiden, Läden, Restaurants, dann geht es den Menschen in Irkutsk vergleichbar gut wie den Menschen in Berlin oder Edinburgh, aber besser als denen in Lissabon oder Istanbul.
Ich habe jedoch schon vor Jahren aufgehört, solche Vergleiche anzustellen. Weil sie nichts bringen.
Zum einen, weil es für einen Schweizer Franken-Kontobesitzer mit wenigen Ausnahmen überall auf dieser Welt umgerechnet viel billiger ist als zuhause. Und er in aller Regel auch mehr verdient.
Zum anderen weil man mit solchen Rechnereien den Leistungen der Menschen in anderen Ländern nicht gerecht wird.
Wenn ich durch die Stadt streife, dann empfinde ich grossen Respekt für den Wandel und den Fortschritt in unserem Sinn, den dieses Land seit dem Untergang der Sowjetunion vollzogen hat.
Und wenn ich die aktuellen Nachrichten verfolge, so dünkt mich die Politik des Herrn Putin zum Beispiel in Sachen Syrien um einiges berechenbarer als die des moralisierenden Eiertanzers Obama.
Gerade für die Schweiz könnte Russland im Machtpoker mit der EU ein interessanter Partner werden. Denn uns vereint eine Sache: es sind beides europäische Staaten, welche sich der Deutungshoheit Brüssels, wie den ein europäisches Land zu sein hat. entziehen.
Henry Berger meint
Ich war bereits ca. 1995 in Russland und schon damals habe ich die kulturellen Unterschiede als nicht so riesig empfunden, wobei dann Moskau noch ein völlig anderes Gesicht hatte. Vielleicht ist es auch ein Fehler des Westens, dass er nicht mehr auf die kulturellen Gemeinsamkeiten hinweist und vielmehr das trennende betont – irgendwie ist da in den Köpfen immer noch die im 2. Weltkrieg angedrohte „Mongolenhorde“, kulturelle Leistungen wie Schriftsteller, Komponisten, Maler etc. gehen da verloren, dazu kommt dann halt noch, dass das Auftreten neureicher Russen im Westen nicht gerade an kulturelle Höchstleistungen denken lässt. Irgendwie habe ich den Eindruck Resteuoropa und Amerika sind irgendwie ratlos, was den „Umgang“ mit Russland betrifft – aber irgendwie muss dieses Land doch eingebunden werden….
Henry Berger meint
Ein riesiger Unterschied zwischen Russland und West-/Mitteleuropa fällt mir noch ein: Die Wahrnehmung von M. Gorbatschow ist eine völlig andere: Bei uns fast verehrt und in Russland eine verfehmte und völlig ungeliebte Person
Versuchen Sie Russen einmal auf Gorbatschow anzusprechen, Sie werden über die Reaktionen sehr staunen…..(Wobei ich davon ausgehe, dass Sie diesen Wahrnehmungs-Unterschied schon kennen) – wie immer übrigens sehr interessant Ihre Reiseeindrücke, bin bereits auf China und Vietnam gespannnt!
Henry Berger meint
Das Russland kulturell zu Europa gehört war für mich nie eine Frage. Es stellt sich halt die Frage, ob das „Scheitern“ von Napoléon vor Moskau schlussendlich nicht die grosse Tragik Russlands darstellt, haben doch so die Ideen der Aufklärung, Menschenrechte, Gleichheit etc. in Russland nicht die Verbreitung gefunden, wie in den West- und Mitteleuropäischen Ländern.
M.M. meint
Klar, da gibt es ziemliche Defizite. Ich bin einfach verblüfft, wieviel anders das Russland der Realität gegenüber demjenigen in uneren Köpfen ist. Waren eben mit einem rumreisenden Paar aus Deutschland zum Nachtessen weg. Denen geht es auch so. Die sind wie wir völlig überrascht, was sie hier angetroffen haben.
Stefan Peter meint
„Stadt, die die drittgrößte Armutsrate in Russland aufweist, unter den ersten fünf in der Statistik der Alkohol-/Drogenabhängigen zu finden ist und ebenfalls einen vorderen Platz bei den Arbeitslosenzahlen erreicht“ (irkutsblog)
„Wenn ich durch die Stadt streife…“ (arlesheim reloaded authenticy report)
M.M. meint
Na klar doch, bestreitet ja niemand. Ich verfolge die Berichterstattung wie Sie seit Jahren.
17% der Wohnbevölkerung Berlins sind Harz IV-Empfänger. 10 % der ü65-Jährigen in der Schweiz sind Alkoholiker.
Was ich sagen will: Das Bild, das man in den Strassen sieht, ist eben überraschend anders.
Wenn ich den Augenschein hier in Irkutsk mit dem in Porto (Portugal) vergleiche, dann ist es hier wirtschaftlich besser. In Porto, wo wir vor einem Jahr waren, waren die Schaufenster jedes zweiten Geschäfts zugeklebt oder war Schliessungsverkauf. Praktisch an jeder Strassenecke in der Innenstadt standen teilweise ziemlich aggressive Bettler.
Sergej, Angestellter in einem lokalen Reisebüro, so um die vierzig, sagt, dass man nur mit einem Doppelverdienst einigermassen durchkomme. Manche hätten zwei, drei Jobs. Ist das nur in Russland so? Eine grosse Belastung für Familien stellt das Schulgeld und das nötige Material dar, sagt er. Und er habe dieses Schuljahr erstmals eine freudige Überraschung erlebt: der Musikunterricht für seine Tochter sei jetzt gratis. (Wir haben längere Zeit an die 2’ooo Franken im Jahr für den Musikunterricht unserer vier Kinder bezahlt.) Die Eltern engagierten sich auch aktiv bei der Instandhaltung der Schule. Das sei völlig normal.man kann jetzt sagen, oh wie schrecklich, dieser Lotterstaat; ich sage: gesunder Bürgersinn halt.
PS an die Leser: dieser Irkutskblog ist tatsächlich lesenswert. Weil er mehr zeigt als obiges Zitat
marek meint
Porto?
Ein europäisches Erlebnis der besonderen Art:
So etwas heruntergekommenes hab ich auf der ganzen Welt noch nie gesehen…
M.M. meint
Porto hat uns echt schockiert.
Peter Meyer meint
Russland ist eine korrupte Diktatur , wo Wahlen gefälscht werden, und Regimekritiker ins Gefängnis gesteckt werden. 3 Mädchen kommen ins Gefangenlager, weil sie sich mit einem Lied über den Präsidenten lustig machen. Über einen EU Beitritt zu denken ist unmöglich.
M.M. meint
Ich verfolge auch die Nachrichten. Aber jetzt bin ich hier und da zeigt sich eben (auch) ein anderes Bild. Sie haben es sicher mitbekommen, in Jekaterinenburg hat der oppositionelle Kandidat die Bürgermeisterwahlen gewonnen.
Und zu korrupt: in der Schweiz müssen Parteien und Politiker nicht offenlegen, woher die Gelder, die sie erhalten, stammen. Ist anderen Demokratien völlig undenkbar.
Hatten übrigens ein Zugticket Moskau einfach gelöst. 🙂
gotte meint
ich war kürzlich zeugin eines stammtisch-gesprächs mit waschechten schweizern. und plötzlich waren sie sich am stammtisch einig, dass es am besten wäre, man hätte einen guten diktator. denn sonst gehe alles langsam und es sei furchtbar, was für pfeifen da meinten, in dingen mitreden zu können, von denen sie keine ahnung hätten ich meinte dann, das problem sei ja, dass man sich eben über das gute nicht einig würde – deshalb bleibe nur das verfahren selbst als legitimation. – – – grossmächte sind verführerisch, sogar für waschechte demokraten (auch herr gross fand herrn putin einen angenehmen gesprächspartner): passen sie also auf sich auf! vor allem, wenn sie bald nach china kommen…
M.M. meint
Ich kannte einen Gemeinderat, der war sowas von begeistert vom Herrschersystem in Dubai. Singapur ist bei BILANZ-Lesern auch hoch in Kurs.
Lediglich alle vier oder gar nur alle sieben Jahre ein paar Demokratiestellvertreter wählen zu können und ansonsten nichts zu sagen zu haben oder auf der Strasse protestieren zu müssen, ist mir unerträglich.
Aber so ist es halt überall.
Was ich sagen will: man wird „den Russen“ nicht gerecht, wenn man sie in putinsche Geiselhaft nimmt. Zu meiner Verblüffung stelle ich fest: Das sind Europäer wie andere auch und wollen nichts anderes, als so leben wie wir im sogenannten Westen. Das wollten die Polen, die Letten und Esten ja auch.
Ich stelle übrigens schon seit längerer Zeit fest, dass es den Typus des universellen Städters gibt. Der Bevölkerungsmix gleicht sich auch an.
Ich bin manchmal überrascht, wenn ich junge Frauen Russisch reden höre, dem äusseren Schein nach, ihres Aussehens und ihrer Kleidung nach, hätten sie sich genauso gut auf Italienisch, Spanisch oder Deutsch unterhalten können.
Wir hatten kürzlich an einer Hotelrezeption ein für diese Städtertheorie sehr bezeichnendes Erlebnis. Drei Packpackerinnen checkten mit uns ein, eine blonde Frau, eine Asiatin und die Dritte mit asiatischen Einschlag. Spontan war ich der Meinung, es handle sich um Amerikanerinnen. Ich lag völlig daneben. Kaum hatte ich nämlich das gedacht, legten die drei ihre Schweizer Pässe auf den Tresen.