In den 50er-Jahren des letzten Jahrhunderts haben mich meine Eltern nach Sirnach verschleppt. Das mag krass klingen, doch wer würde schon freiwillig von Freiburg im Breisgau in dieses damals knapp 4000 Köpfe zählende Bauernkaff ohne Autobahn und Schnellzuganschluss ziehen?
Sirnach. Thurgau. Tannzapfenland!
Damals war ich noch zwangsgetauft protestantisch, weil mein exkommunizierter Vater eine Protestantin geheiratet hatte und er der katholischen Kirche in alle Ewigkeit eins auswischen wollte. Sirnach war stockkatholisch. Hätte man mich in die Entscheidung einbezogen, dann hätte ich mich bei den Juden eingeschrieben.
Wenn schon, dann das Original.
Kürzlich sagte ein Hinduführer, Christen und Moslems im Blick, alle Menschen seien bei ihrer Geburt Hindus.
Über dem Arzt, dem Apotheker und Lehrer Böhi thronte der katholische Pfarrer als wichtigste Person im Dorf. Seine Kirche stand auch mittendrin, während die Protestanten mit ihrem Gotteshaus an den Rand gedrängt wurden. Sie hatten sich jedoch ein Grundstück über dem Dorf gesichert, sodass sie sonntags auf die Katholiken runterschauen konnten. Damals war die Welt noch in Ordnung: Frauen hatten kein Stimmrecht, Verheiratete konnten ohne Segen ihres Mannes kein eigenes Bankkonto eröffnen, keine Wohnung mieten, keine Versicherung abschliessen. In der Badeanstalt im nahe gelegenen Wil konnten Frauen und Männer nur an getrennten Tagen das öffentliche Schwimmbad nutzen. Wir gingen also an den Männertagen hin und kamen uns ziemlich erwachsen vor. In der Wiler Badi habe ich meine erste Zigarette geraucht.
Mitte der 50er-Jahre taten sich ein paar Leute in einer Interessengemeinschaft zusammen, um mit den Münchwilern ein Familienbad zu bauen. Das war ein harter Kampf. An vorderster Front gegen das Familienbad an der Murg kämpfte der katholische Pfarrer von Sirnach. Er sah das Ende der Zeit kommen, wenn nun Frauen und Männer zur gleichen Zeit ins kühle Nass gumpen sollten, um sich anschliessend – spärlich bekleidet – Seite an Seite in die Sonne zu legen. Sünde sei das, wenn Männer in Versuchung geführt würden, sie wegen der Frauen in Badekleidern zu unreinen Gedanken verführt würden. Das Bad musste verhindert werden. In sorgender Liebe.
Leute, wer die 50er-Jahre schadlos überstanden hat, der hat für einen 27-jährigen Nachwuchs-Imam in Kleinhüningen, der sagt, «der Blick auf halbnackte Frauen ist eine teuflische Versuchung», nur ein müdes Lächeln übrig. Der einzige Moslem, der mir aus meinen Sirnacher Jahren in Erinnerung blieb, ist Hadschi Halef Omar Ben Hadschi Abul Abbas Ibn Hadschi Dawud al Gossarah. Der ritt an der Seite von Kara Ben Nemsi durchs wilde Kurdistan, und immer dann, wenn er seinen Worten Nachdruck verleihen wollte, sagte er: «Beim Barte des Propheten.» Als ich das Bild des Imams sah, dachte ich, der ist sicher mächtig stolz auf seinen Bartwuchs. Weil ganz offensichtlich das Wissen des jungen Mannes um die Welt nach der 114. Sure endet, sollte ihn dringend jemand darüber aufklären, dass im Jahr 2018 die Sünde nicht am Kleinbasler Rheinufer lockt, sondern in den Smartphones seiner bärtigen Anhänger.
Übrigens: Der Kampf ums Familienbad wurde nach Monaten des Streits elegant gelöst, indem es gleich hinter der Gemeindegrenze auf Münchwiler Boden gebaut wurde. Dort hatte der katholische Pfarrer aus Sirnach nichts mehr zu melden.
Zuerst erschienen in der Basler Zeitung vom 24. Januar 2018
Marc Schinzel meint
Stark geschrieben! Aus dem Leben, treffend, amüsant! Roma eterna, Kapitale der Sancta Mater Ecclesia, scheint zu inspirieren … :-;