Es war wohl kaum zu vermeiden: Heute hat sich auch Herr Muschg in der Sache „Grass“ zu Wort gemeldet. Über weite Strecken derart „verschwurbelt“ (wohl das Wort des Jahres), dass die Leserschaft des „Sonntag“ wohl kaum verstehen wird, was er ihr sagen möchte.
Zumindest ging es mir so.
Das ist auch keine schweizerische Debatte, wie beispielsweise das Steuerabkommen mit Deutschland, die da zu Herrn Grass und seinem „Gedicht“ geführt wird. Weshalb Schweizer und somit auch Herr Muschg, nichts zur Debatte beizutragen haben.
Sie sollen schweigen und sich um die Schwarzgeldkonti kümmern.
Hier geht es um die Äusserung eines Vertreters der verlogenen Generation, mit der wir, die unmittelbar nach dem Krieg Geborenen, in den fünfziger Jahren begonnen haben, abzurechnen, mit der Generation der Täter, der Hinnehmer und der Mitläufer, der Generation der Raschvergesser und -verdränger.
Die Generation unserer Väter und Grossväter.
Bis in die frühen sechziger Jahre hat in meiner Familie niemand darüber geredet, dass meine Grosseltern 1943 im KZ Sachsenhausen bei Berlin erschossen wurden, dass meine Mutter als 16-Jährige mehrere Wochen in Karlsruhe in Gestapohaft sass.
Das war tabu, darüber sprach man nicht.
Denn wollte man vor Kriegsende aus Angst nichts mehr mit meiner Mutter zu tun haben, dann war es nach dem Krieg die Überlebende, welche die verlogenene Generation daran hinderte, vergessen zu können.
Ich bin aufgewachsen mit einer Verwandtschaft, in der Sätze „bis zum Vergasen“, „unter dem Adolf hätte es das nicht gegeben“, „es war nicht alles schlecht im Dritten Reich“, „in der HJ haben wir Disziplin gelernt“, „es muss doch auch mal vorbei sein“, „üb immer Treu und Redlichkeit“, „eine (deutsche) Frau raucht nicht“, und so weiter uns so fort, wie selbstverständlich zum alltäglichen Wortschatz gehört haben.
Es ist die nationalsozialistische Syphilis, dies sich ins Hirn gefressen hat. Nur wer infiziert ist, wie wir, die Söhne und Töchter der verlogenen Generation, versteht die Symptome.
Herr Grass war bei der Waffen SS. Um das zuzugeben, brauchte er 61 Jahre. Die Gedächtsnislücke sei schuld.
Die verlogene Generation litt nach dem verlorenen Krieg am meisten und zuerst unter der Gedächtnislücke.
Wenn Herr Muschg also schreibt:
Plötzlich soll alles gegen ihn sprechen: nicht nur die Einteilung des ganz jungen Mannes zur Waffen-SS, die er selbst – natürlich zu spät! – eingestanden hat und aus der inzwischen eine „Zugehörigkeit“ geworden ist.
Dann ist das ein Satz eines Schweizers, der von der nationalsozialistischen Syphilis verschont blieb und deshalb einfach den Mund halten sollte. Er versteht die deutsche Debatte nicht.
Er weiss auch nicht, dass man auch das nicht schreiben kann: „Selbst der jüdische Schriftsteller Charles Lewinsky meint….“, weil dieser Satzanfang mit zum Argumentarium der verlogenen Generation gehört. Sie zitieren immer einen Juden, wenn sie von ihrer Schuld entlastet werden wollen.
Wenn doch selbst ein „jüdischer Schriftsteller“, suggeriert Herr Muschg in bester Verlogendheitsmanier, sei das doch nicht gar so schlimm, was Herr Grass da geschrieben habe.
Ein Missverständnis halt, ein boshaftes gar des deutschen Feuilletons.
In Klammer: Mein Vater, ein Jahr älter als Herr Grass, wurde 1943 auch für die Waffen SS gemustert. Es war dann meine Grossmutter, eine beherzte Frau, im elsässischen Thann geboren, Trägerin des Mutterverdienstkreuzes, eine Art Ritterkreuz für Mütter, das am Tag des Einmarsches der Franzosen in Freiburg in der Etagentoillette auf Nimmerwiedersehen weggespült wurde, es war meine Grossmutter, die meinen Vater im Rekrutierungsbüro aus der Waffen SS rausgeredet hat und erreichte, dass er zur Luftwaffe versetzt wurde. Er hat, als Fallschirmjäger, nie ein Flugzeug von innen gesehen. Klammer geschlossen.
Herr Grass sagte es 2006 der FAZ so:
Auch das ist ja eine merkwürdige Sache: Ich habe mich gemeldet, mit fünfzehn wohl, und danach den Vorgang als Tatsache vergessen. So ging es vielen meines Jahrgangs: Wir waren im Arbeitsdienst, und auf einmal, ein Jahr später, lag der Einberufungsbefehl auf dem Tisch. Und dann stellte ich vielleicht erst in Dresden fest, es ist die Waffen-SS.
Er habe sich als Fünfzehnjähriger zu den U-Booten gemeldet. Schimmert’s später durch seine Gedächtnislücke. Aber die hätten ’43 keinen mehr genommen, weil der Krieg verloren sei, habe der von der Marine gesagt, so Herr Grass.
Gibt es im Jahre 1943 Gründe dafür, dass er gar keinen Umweg über die U-Boote macht, sondern sich gleich bei der Waffen-SS meldet, dann aber bis zur Vollendung des 16. Lebensjahres warten muss?
Mutmasst ziemlich plausibel Gunnar Heinsohn bei „achtgut“.
Die Reaktion auf das sogenannte Gedicht fällt in Deutschland deshalb so heftig aus, weil die Generation der heute 55plus-Jährigen es leid ist, sich diese Gedächtnislücken weiterhin anhören zu müssen. Vor allem dann, wenn sie unter dem Deckmantel des um den Weltfrieden besorgten Mahnens hochrülpsen.
PS: Dass meine Grosseltern im KZ umgebracht wurden, habe ich erst Mitte der sechziger Jahre erfahren. Es dauerte dann nochmals zehn Jahre, bis ich meine Mutter dazu bewegen konnte, ihre Geschichte aufzuschreiben. Im Jahr 2008 habe ich dann den Hintergrund, der zur Verurteilung geführt hatte, erfahren.
Bild: Wikipedia
Thomas Pfluger meint
Lieber Herr Messmer, wenn wir doch nur ein bisschen mehr Leute wie Sie hätten, die so gut kommentieren! Herzlichen Dank.
C.P. meint
http://www.derisraelit.org/2012/04/was-gesagt-werden-muss-solidaritat-mit_06.html
Obwohl es auch mich nichts „angeht“ habe ich doch, wie Muschg, über die flächendeckende, einhellige Kritik in deutschen Medien gestaunt. Wolle mich etwas schlau machen und bin über diese Seite gestolppert. Und habe wieder gestaunt.
cato meint
M.M. Sie haben vollkommen recht. Es war halt in den letzten Jahren um Herrn Muschg ziemlich ruhig geworden, und da ist man froh um eine solche Gelegenheit, um sich wieder mal in Erinnerung zu rufen.
Vor dem ersten Weltkrieg gab es einen anderen Schweizer Schriftsteller,sogar einen Nobel-Preisträger, mit nahen Beziehungen zu unserem Kanton. Ich rede von Carl Spitteler, der sich in seinem Vortrag „Unser Schweizer Standpunkt“ kritisch zu Deutschland und dessen Politik geäussert hat. Die Folge war ein wütiges Aufschreien in Deutschland, und Spitteler wurde fortan in der Deutschen Literaturgeschichte entweder masslos attakiert oder einfach totgeschwiegen.
Das damalige Vorgehen von Spitteler war äusserst mutig, musste er doch mit einer für ihn ungünstigen Reaktion in Deutschland rechnen. Das Vorgehen von Muschg sichert ihm zwar eine gewiise Publizität, braucht aber keinen Mut. In Deutschland und auch in der Schweiz gibt es viele, die denken wie Grass, und die Schweizer Medien, die mehrheitlich den grünen und linken Kritikern von Israel und Freunden von Palästinensern eh näher stehen, werden Muschg nicht angreifen. Also hat Muschg aus seiner opportunistischen Sicht eigentlich nichts falsch gemacht.
Grass nennt sein Pamphlet ein „Gedicht*. Es entspricht aber punkto Aufbau und Metrik kaum einem Gedicht und ist eher eine Schande für diese edle Form der Literatur.
M.M. meint
Das ist der Kern der ganzen Diskussion:
Deutsche haben das Trauma von 1945 nicht überwunden
Kaputt Mundi meint
Wen kümmert die Meinung des voll grassen und grassistischen DJ Danzig tatsächlich?
DJ Danzig ist weit weg vom Weltpuls. Alter Diskurs. Uralter Hass auf die mystische Plutokratie – also die dort drüben, irgendwo in der neuen Welt.
Alter preussischer Sozialist, ob national oder international orientiert. Alter innerer Konflikt des Ostdeutschen, ständiger Kreis. Alter Versuch, seinem engen Prägungsmilieu durch Vernunft zu entfliehen, ewiger Zirkel.
Die intellektuelle (oder angeblich poetische) Stimulation ist für den Zeitgenossen gleich null.
Interessant könnte die Argumentationskette der Verteidiger sein. Aber auch die ist sowas von nicht überraschend…
Urs Gygli meint
Es passt so schön zusammen. Der Babyboom ist politisch mit der Delegitimierung Israels sozialisiert worden. Spitzfindig das Feigenblatt gegen den Vorwurf des Antisemitismus: man sei ja nicht gegen Juden, sondern nur gegen die Zionisten. Linke, Grüne, Sozalisten, Sozialdemokraten und die Mehrheit der Medien im deutschsprachigen Raum haben sich damit gegenseitig die Taschen vollgelogen. Despoten von Stalin über Mao, Pol Pot, Yassir Arafat, Saddam Hussein, Ahmadinedschad und alle anderen haben vom Goodwill profitiert, den die politische Korrektheit Israel stets verweigert hat. Da verwundert es eigentlich niemanden, dass sich auch Schweizer Literaten hinter Günther Grass stellen.
Fred David meint
Herr Messmer, Ihre Schilderung ist sehr eindrücklich. Aber der Krieg ist doch nun seit 67 Jahren zu Ende! Und Grass war 17, als er als letztes Aufgebot zur WaffenSS kam, die in dieser späten Kriegsphase eine „normale“ Kampfeinheit war und sich von der mörderischen SS deutlich unterschied. Die Alliierten ächteten ausdrücklich die SS als verbrecherische Organisation, nicht die WaffenSS; diese respektierten sie immerhin noch als militärische Einheit. War sicher auch kein Gesangsverein, aber das war die ganze Wehrmacht nicht. Das sind nicht nur graduelle Unterschiede.
h.s. meint
Sehr geehrter Herr David: Die Waffen-SS ist in Nürnberg verboten worden. die Mitgliedschaft als Mittäterschaft an Kriegsverbrechen kwalifiziert. Nur die Mitglieder die Zwangsweise (nicht wie Grass freiwillig ab 1943) eingemustert sind und nicht selber Kriegsverbrechen begangen haben, sind von diese Generellverurteilung ausgenommen. Interessant ist den Unterschied zwischen die Verteidigung von Grass und die Verurteilung von Leute wie Kohl oder Ratzinger, die eben nicht SS-Mann waren sondern Zwangsweise in die Luftabwehr eingeteilt waren.
Fred David meint
@)h.s., Sie haben Recht. Ich habe auch noch mal nachgeschaut. Die Waffen-SS wurde im Nürnberger Prozess gleichfalls als verbrecherische Organisation geächtet. Allerdings war die Waffen-SS , anders als die SS, direkt der Wehrmacht unterstellt. 1944 hat man 594 443 Soldaten der Waffen-SS gezählt , wovon 368 654 Frontsoldaten. Der bei Kriegsende 19jährige Grass war damit nun nicht gerade eine singuläre Erscheinung. Dass er sich allerdings erst als alter Mann dazu bekannte, ist sicher peinlich für ihn, aber seine Aussagen zu Israel lassen sich daran nun wirklich nicht messen. Niemand hat Grass bisher Kriegsverbrechen bezichtigt und es gibt keinerlei Information, die das nahe legen. Das sollte man auseinanderhalten.
h.s. meint
Vielleicht sollte Gunter Grass ganz einfach sein Mund halten. In die sechziger Jahre war er der grosse Mann der andere tadelte und aufrief nicht ein Amt zu übernehmen weil sie bei die NSDAP gewesen waren.
„Wie sollen wir der Toten von Auschwitz und Treblinka gedenken, wenn Sie, der Mitläufer von damals, es wagen, heute hier die Richtlinien der Politik zu bestimmen?“ aus offene Brief Grass an Kiesinger in 1966. Er der die moralische Ueberlegenheit spielte, war selber mehr belastet dann Kiesinger. Aber messen wollen die Linke nur die Andersdenkenden an ihre Normen weil Linke sind für Gleichheit (nur sind Einige gleicher)
Fred David meint
@) h.s. : Man muss doch gar nicht von einer „moralischen Überlegenheit“ ausgehen. Das wäre anmassend. Wieso soll ein Schriftsteller, nur weil er schreibt, moralisch überlegen sein?
Seine Aufgabe ist allerdings, dass er versucht, Debatten in Gang zu setzen, über Vorgänge und Zusammenhänge, die sonst gern unterm Teppich verschwinden. Das, finde ich, ist ihm gelungen. Der Emile-Zola-Effekt.
Man sollte nicht so sehr an der Figur Grass hängen bleiben – die ist doch gar nicht so wichtig -, sondern an dem, was er sagt. Vielleicht liegt er völlig falsch, vielleicht auch nicht. Aber es lohnt, sich damit inhaltlich auseinanderzusetzen.
Christoph Schwegler meint
http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/das-israel-gedicht-von-grass/eine-erlaeuterung-was-grass-uns-sagen-will-11708120.html
Beat Hermann meint
Auch für mich die vorläufig gültige Lesart. Die grossen Zusammenhänge im Durcheinandertal der eigenen Biographie. Es geht nicht mehr auf.