Nichts würde die Eliten mehr verunsichern als ein zufriedenes Volk. Es bräuchte keine Propheten.
Obwohl Moses sein Volk aus der Knechtschaft einer glorreichen Zukunft entgegenführt, es murrt. Was auch immer er an Wundern hervorbringt – gibt es etwas Spektakuläreres als die Teilung des Roten Meeres? – Es nörgelt rum. Und kaum dreht der Prophet dem Volk den Rücken zu, umtanzt es das Goldene Kalb.
Seither wissen wir, dass das Volk nie zufriedengestellt werden kann.
Dies zu wissen, gehört zur Esoterik der Eliten. Man kann Elite also so definieren: Elite ist eine Gruppe von Personen, welche die durch nichts zu ändernde Unzufriedenheit des Volkes zum eigenen Vorteil nutzt. Sie weiss: Unzufriedenheit ist der soziale Klebstoff, der das Volk bei der Stange hält.
Deshalb können sich die Eliten auf den Kampf unter ihresgleichen konzentrieren.
Die ökonomische Elite kennt kein Volk, sondern nur Konsumenten. Deshalb genügt es ihr während des jährlichen Hochamts in Davos krawattenlos Sorgenfalten zur Schau zu stellen. Derweil neue Strategien entworfen werden, wie man die Geschäfte an den sich drehenden politischen Wind anpassen kann.
Die ökonomische Elite schlägt sich immer auf die Seite der Wahlgewinner.
Das Kerngeschäft der politischen Eliten, ja ihr Daseinszweck überhaupt, ist die Bewirtschaftung der Unzufriedenheit des Volks. Fällt es ihr schon schwer, dieses Geschäft mit dem politischen Gegner zu teilen, so ist es ihr geradezu unerträglich, wenn fremde Eliten in Brüssel meinen, sich ebenfalls ums Wohl des Volkes kümmern zu müssen. Mit Arbeitnehmerrechten und Umweltvorschriften.
Wenn ich den Reden der britischen Premierministerin Theresa May zuhöre, dann ist ihre Kernbotschaft unschwer herauszuhören: Die Eton-Cambridge-Oxford-Absolventen wollen «ihr Volk» von den Brüsseler EU-Eliten – die an irgendwelchen unbedeutenden europäischen Universitäten studierten – zurückhaben.
Die Brexit-Abstimmung war ein Projekt dieser Eliten, inszeniert als eine Art sonntäglicher Ruderwettbewerb unter Whigs. Wobei es den Leavern bekanntlich besser gelang, die latente Unzufriedenheit ins eigene Lager zu lenken.
Und damit das Resultat zugunsten der Elite zu interpretieren.
Oxford-Absolventin May letzten Oktober am Tory-Parteitag: «Der Brexit-Entscheid bringt ein wirtschaftliches und politisches System wieder in Ordnung, das mehr den Interessen der Eliten als denen der einfachen Leute gedient hat.»
Doch so weit wie Herr Trump würde Frau May nicht gehen. Der sagte in seiner Inaugurationsrede etwa dasselbe, rief aber noch folgerichtig in die Menge: «Heute geben wir die Macht … an euch, das Volk, zurück», um dabei wie einst Kubas Máximo Líder die Faust zu heben.
Nein, so ein Satz käme Absolventen englischer Elite-Universitäten nicht mal im Traum in den Sinn.
Das Gerede vom Volk und den Eliten kennen auch wir. Die Rhetorik ist dieselbe wie überall. Weil das Volk bei uns zwar mitbestimmen kann, aber trotzdem latent unzufrieden ist, lässt sich diese Gemütslage auch in der Schweiz politisch nutzen.
Doch nie mit derart drastischen Ergebnissen wie anderswo.
Weil die politische DNA der Eidgenossen ein Gespür-Gen fürs Machbare aufweist, was sich in der schweizerischen Verbohrtheit ausdrückt, den Kompromiss als eigentliches Ziel des politischen Handelns zu verstehen.
Das, chers citoyens, bewahrt uns vor Mays, Trumps und anderen.
Zuerst erschienen in der Basler Zeitung vom 25. Januarn 2015.