Aufgrund der globalen Vernetzung können wir davon ausgehen, dass gestern mindestens 1 Mia. Menschen die Meldung von Angelina Jolie und ihrer Brustoperation mitbekommen haben.
Eingedenk dessen, dass für Männer die weiblichen Brüste eine etwas andere Bedeutung haben als für Frauen, kann ich die Beweggründe von Frau Jolie nur halbwegs nachvollziehen.
Wir konzentrieren uns ja mehr auf die Prostata.
Hingegen sind es zwei Dinge, die mich stören. Zum einen ist es da die Deutsche Sprache, respektive der wenig sensible Umgang in der Causa Jolie. (Disclaimer: Die Frau geht mir schon seit Jahren gehörig auf den Wecker.)
Da onlined mir frühmorgens die Überschrift entgegen: „Jolie hat sich die Brüste amputieren lassen„. Selbst in Qualitätsmedien wurde diese Überschrift der Agentur übernommen. Womit die grösstmögliche Aufmerksamkeit garantiert ist. Ist schon das Wort „Amputation“, das ja zumeist mit Kriegsverletzungen in Verbindung gebracht wird, ein wenig erbauliches Wort, elektrisiert es geradezu im Zusammenhang mit „Brüsten“.
Das englische „double mastectomy“ scheint mir nicht nur angebrachter sondern auch taktvoller. Doch die Semantik ist die eine Sache.
Die andere ist die gesellschaftspolitische Bedeutung von Angelina Jolies doppelter Mastektomie.
Wie wir erfahren haben, hat sie sich nach einem Gentest zur Operation entschlossen. Weil dieser „ein 87-prozentiges Risiko für Brustkrebs und ein 50-prozentiges Risiko für Eierstockkrebs“ ergeben hat.
Damit ist von einem bislang vor allem als modische Trendsetterin (und durch schlechte Schauspielerei – siehe oben) aufgefallenen Hollywoodstar ein Thema auf die Tagesordnung gesetzt worden, das uns alle angeht: Wird es zur Pflicht, sich einem Gentest zu unterziehen, um Erbkrankheiten frühzeitig zu erkennen und sich entsprechend behandeln zu lassen?
Und was tut man, wenn man die drohende Erbkrankheit nicht so radikal wie Frau Jolie aus der Welt schaffen kann?
Das Problem ist nicht, dass Frau Jolie sich in ihrem individuellen Fall für sich persönlich eine Entscheidung getroffen hat, die uns im Prinzip nichts angeht.
Das Problem ist, dass die von Frau Jolie aufgrund eines (fragwürdig negativen) Gentests getroffene Entscheidung einen gesamtgesellschaftlichen Massstab setzt. Ich meine, die Frau war noch nicht erkrankt, sondern sie nahm an, dass sie dereinst erkranken KÖNNTE.
Der Hollywoodstar, dessen Beine vor paar Wochen die Aufmerksamkeit der Weltpresse erlangten, liefert nun mit einer angeblich rationale Entscheidung neue Schlagzeilen. Zuvor waren es adoptierte Kinder und die Ehe mit einem anderen Hollywoodstar.
Alterszynisch wie ich nun mal bin, frage ich mich, wer eigentlich von diesem Operationscoup der Frau Jolie profitiert.
Neben der Spezialklinik und den behandelnden Ärzten könnten dies beispielsweise die Versicherungsgesellschaften sein. Es wird ja schon seit Jahren darüber diskutiert, ob man bei Lebensversicherungen nicht einen Gentest vorlegen muss.
Die Versicherungsgesellschaften argumentierten gegenüber den Ärzten schon 2003 so:
[…] Erkennt man solche Veranlagungen rechtzeitig, und lässt sich dagegen auch präventiv etwas unternehmen, so bekommen die Gentests eine ganz andere Bedeutung. Sie helfen mit, rechtzeitig etwas gegen gesundheitliche Bedrohungen zu unternehmen. Sobald Gentests deshalb verbreiteter zum Einsatz gelangen, ist es für die Lebensversicherer wichtig, dass die Ergebnisse eines freiwillig unternommenen Tests in die Beurteilung des Risikos einfliessen kann. Nur so wird es möglich, allen Kunden faire Tarife zu verlangen.
Wollen wir das? Ist Frau Jolie ein Vorbild?
Nein.
Weil Frau Jolie schon in der Vergangenheit einen etwas eigenartige Beziehung zu ihrem Körper öffentlich zelibriert hat: Auf ihrem Rücken hat sie sich die Inschrift „Know Your Rights“ tätowieren zu lassen und in diesem Stil geht es den Körper rauf und runter.
Um es auf den Punkt zu bringen: Möglicherweise hätte Frau Jolie ihr Problem auch mit einem guten Psychiater lösen können.
Sullivan Frisch meint
Korrekur:
Vertragsklauseln bei einer Lebensversicherung, welch danach abgeschlossen würde, wäre doch erst in 2. Linie für die betreffende Person wichtig. Oder täusche ich mich da etwa?
Sullivan Frisch meint
Für mich ergeben sich weitere Fragen:
Hat Frau Jolie einen zweiten Gentest gemacht, um den ersten zu bestätigen?
Falls ja, und das Risiko immer noch bei 87% lag, war das Resultat eine Voraussage Ihres baldigen Todes mit 87% Wahrscheinlichkeit, ausser, sie lässt sich Behandeln, was in diesem Fall geschehen ist. Ein Psychiater wäre dann Fehl am Platz, weil es um eine sachliche Wahrscheinlichkeitsberechnung handelt. Einen Psychiater braucht Frau Jolie höchstens nach der Operation, weil dieser Eingriff für niemanden einfach weggesteckt werden kann.
Falls nein, müsste man wissen, wie sicher der Gentest ist.
Weitere Frage:
Warum soll ein Gentest nicht helfen, die Lebensversicherung zu optimieren.
Er würde ja in erster Linie einem Menschen helfen, sein Krankheitsrisiko abzuschätzen, und eventuell frühzeitig ärztliche Massnahmen zu ergreifen, um seine Gesundheit zu bewahren. Vertragsklauseln bei einer Lebensversicherung, welch danach abgeschlossen würde, wäre doch erst in 1. Linie für die betreffende Person wichtig. Oder täusche ich mich da etwa?
bugsierer meint
diese gentests sind nur ein element der zukünftigen (totalen?) vermessung des menschen. da wird in den nächsten jahren noch einiges mehr auf uns zukommen, wie sascha lobo in seiner kolummne „leben im schutz des mittelwerts“ eindrücklich skizziert:
http://www.spiegel.de/netzwelt/web/daten-statt-raten-ein-lob-des-mittelwerts-a-861496.html
gotte meint
leider ist ihnen der titel völlig missglückt. die gesellschaftlichen folgen sind vielmehr ABSEHBAR. denn die gentests aus dem supermarkt, die auch bei uns demnächst einzug halten, werden nicht nur das individuelle verhalten der einzelnen selbst, sondern auch die gesellschaftlichen forderungen prägen, die gegenüber dem einzelnen explizit oder implizit erhoben werden. dem gentest für die geborenen wird der gleiche erfolg beschieden sein wie dem gentest für die ungeborenen. und auch bei diesem wird wie bei jenem nicht nur ein wissen um eine wahrscheinlichkeit angeboten, sondern unmittelbar ein therapie-angebot bereit gestellt, das seinerseits wiederum in eine handlungs-maxime umschlägt. oder wann haben sie das letzte mal einen behinderten säugling gesehen? ist mindestens in meinem fall schon sehr, sehr lange her.
U. Haller meint
@ Gotte: Behinderte Säuglinge sind so selten auch wieder nicht, wie Sie annehmen. Ich habe unlängst zwei kennenlernen dürfen. Was den Gentest für die Ungeborenen anbelangt, meinen Sie wohl den m.E. umstrittenen PraenaTest®. Hier geht es aber um ungeborenes Leben, das, je nach Testergebnis, auf Veranlassung der werdenden Mutter ausgelöscht werden kann, wobei ich mich nicht zu einem Urteil aufschwingen möchte, ob ein solches Designerkind-Dasein (oder eben nicht-Dasein) ethisch vertretbar ist. Wir haben uns, dies nur am Rande vermerkt, für das Dasein entschieden. Was die Brangelina mit ihrem Körper macht, hat aber mit solchen schwerwiegenden pränatalen Entscheidungen nun gar nichts zu tun.
gotte meint
das verbindende element zwischen allen möglichen und unmöglichen (gen-)tests besteht darin, dass uns ein instrument zur verfügung gestellt wird, das uns entscheidungen abverlangt. zunächst die bewusste entscheidung, den test zu machen oder nicht. dann als nächstes die bewusste entscheidung, aus einem allfälligen testresultat eine handlung folgen zu lassen oder nicht. das perfide daran ist, dass aus dem test selbst die entscheidung an sich nicht direkt folgt. wir werden also gezwungen, „frei“ zu entscheiden. für mich besteht die zumutung darin, dass wir überhaupt in die lage versetzt werden, „freie“ entscheidungen zu dingen treffen zu müssen, die genau besehen gar nicht in der verfügungsgewalt des einzelnen oder der gesellschaft sind – oder sein sollten. wenn sie sich, liebe(r) u.haller, bewusst für das dasein entschieden haben in einer situation, in der sich andere dagegen entscheiden, dann werden sie wohl auch die erfahrung machen, dass ihre entscheidung für viele leute begründungsbedürftig erscheint. ich würde mir wünschen, dass sie es nicht wäre.
Old (@trashbarg) meint
@Gotte, die Möglichkeit, oder besser der einem Gentest folgende Zwang sich Entscheiden zu müssen etwas zu tun, sei das eine Therapie, Behandlung oder die Abtreibung ungeborenen Lebens, ist das Eine.
Das Andere, welches imo der Blog Titel impliziert, sind die unabsehbaren Folgen welche sich daraus ergeben in Bezug auf z.Bsp. Versicherungen. Was, wenn ein Gentest mir sagt, dass ich möglicherweise an Krebs erkranken werde und ich deswegen keine Lebensversicherung oder Zusatzkrankenkasse abschliessen kann. Was wenn ein solcher Gentest von mir und meiner Partnerin ein mögliches Risiko für ein zukünftiges Kind, behindert zur Welt zu kommen, aufzeigt und wir uns entschliessen, ein solches Kind trotzdem zu zeugen.
Was da auf die Gesellschaft an moralisch/ethischen fragwürdigen Entscheidungszwängen zukommt ist in der Tat nicht absehbar.