Man sollte sich keinen Illusionen hergeben: Auch wenn Herr Habeck sich für die Schweiz bei der EU ins Zeugs legen will, ändert das nichts an der Tatsache, dass zuallererst in diesem Land ein gewaltiges Umdenken stattfinden muss.
Die Frage ist nicht, ob wir da oder dort zu welchen Konditionen bei der EU mitmachen wollen und wo unsere oder deren rote Linien liegen..
Dabei gilt es zunächst zur Kenntnis zu nehmen, dass wir mit den zehn Fragen der EU-Kommission an den Bundesrat, eine neue Ausgangslage haben.
Weil die Schweiz diesen Brief so und nicht anders interpretiert. Auch wenn die Themen und die entsprechenden Fragen dieselben wie zuvor sind.
Und überhaupt, seit Februar ist sowieso alles anders.
Stefan Israel, Brüsseler Tamedia-Korrespondent, hat die Frage gestellt: „Wie stehen die Chancen auf eine Lösung nach dem Abbruch des Rahmenabkommens?“
Seine ausführlichen Erläuterungen kurz zusammengefasst: Sie stehen bei Null.
Habeck hin und Kretschmann her.
Das Gute an der Sache ist, dass wir damit den Tiefpunkt der Beziehungen mit der EU jetzt erreicht haben.
Jetzt und nicht erst in vier, fünf Jahren, wenn die Bilateralen vollständig zerbröselt sind.
Wir können deshalb befreit den ausgetretenen Pfad verlassen, auf dem die EU vor uns hertrottet.
Wir müssen weg von der Idee eines Vertragswerks kommen.
Wir müssen die Sache anders denken.
Ein erster Schritt wäre also der EU-Kommission zu antworten: Wir können die zehn Fragen nicht beantworten, weil sie uns nicht weiterbringen.
Wir melden uns wieder.
Anschliessend wird eine Kommission aus Experten aus verschiedenen Fachgebieten und eine andere mit Politikern aus Bund und Kantonen gebildet mit dem Auftrag, 1. September 2023 die Frage zu beantworten: Wo sehen wir unseren Platz in Europa?
Eine vordergründig einfache Frage, die jedoch den Kern aller Diskussionen trifft und sich deshalb als ziemlich komplex herausstellen wird.
All die möglichen Szenarien, die sich aus dieser Frage ergeben, erfordern substanzielle Antworten.
Politische, wirtschaftliche, kulturelle, wissenschaftliche, energetische und so weiter.
Weil der Prozess ergebnisoffen erklärt wird, kann sich die anfängliche Verkrampfung der Lager im Verlaufe der Arbeiten durchaus entspannen.
Denn vom völligen Alleingang als «global Switzerland» bis hin zum EU-Beitritt als «europäische Nation» denkbare Ergebnisse der intensiven, auch öffentlich geführten Debatte.
Denkbar sogar, dass man zu einem zu einer Zusammenfassung der Experten- und Politikerergebnisse gelangt, dass man dem Volk zur Abstimmung vorlegen kann.
Die EU kann die Ernsthaftigkeit dieser innenschweizerischen Diskussion nicht ignorieren. Sie wird in Europa zur Kenntnis genommen werden, wie dies bei der Frontex-Abstimmung der Fall war.
Zumal das Ergebnis, davon bin ich überzeugt, eines sein wird, das überzeugt und im Macron’schen Sinn wegweisend für das Verhältnis der EU mit europäischen Nationen sein kann, die sich weder über den EWR noch mit einem Beitritt der EU anschliessen wollen/können.
Ist die Schweiz überhaupt (noch) in der Lage, verfügt das Kollektiv über genügend Fantasie, um eine solche Jahrhundertaufgabe an die Hand zu nehmen?
Ja, davon bin ich überzeugt.
Zumal die politische, wirtschaftliche und die klimatische Entwicklung so viel Druck bringt, dass man sich jetzt bewegen muss.
Entweder weil man heftig geschubst wird oder selbst vorwärts macht.