Die immer völlig überfüllten Tuktuks sind für mich Sinnbild der engen Platzverhältnisse in diesem Land.
Als ich vor 42 Jahren erstmals in Indien herumgereist bin, zählte das Land knapp 600 Millionen Einwohner. Was mich schon beim Grenzübertritt überwältigt hat, waren diese, im Wortsinn, Menschenmassen.
Wobei ich beim ersten Dorf gleich nach der Grenze zu Pakistan, das wir zu Fuss durchquerten, meinte, es herrsche hier Markttag oder man feiere ein besonderes Fest, Morgestraich oder etwas in der Art, was die Menschen aus den umliegenden Ortschaften in diesen Marktfleck gebracht habe.
Aber nein, auch in der nächsten und übernächsten und überübernächsten Stadt waren ebensoviele Menschen auf den Strassen, wie überhaupt im ganzen Land, wie ich nach vier Monaten herumreisen – mit dem Zug, auf dem Dach von Trucks („Public Carriers“) sowie längeren Fussmärschen – feststellen konnte.
Heute leben in Indien über 1,2 Mia. Menschen, also doppelt so viele wie damals, als ich zum ersten Mal hier war. Neben dem Smog, der den Taj Mahal schon wenige Kilometer entfernt im Gemisch aus Feinstaub unterschiedlichster Herkunft verschwinden lässt, sind es diese Menschenmassen, die eine Indienreise sehr, sehr anstrengend machen.
Eigentlich ist es ein Ding der Unmöglichkeit, zu Fuss eine Stadt zu besichtigen. Man wird deshalb immer wieder von Rischka- und Tuktukfahrern angesprochen. Nicht weil die besonders aufdringlich wären, das ist eine Fehlinterpretation der ersten Tage, nein, weil hier einfach niemand eine längere Strecke in einer Stadt zu Fuss zurücklegt. Man kommt auch nur mühsam voran.
Und vor allem: es gibt keinen Ort – Park, Café (Teehaus), Platz – wo man mal kurz entspannen könnte. Hat man sein Hotelzimmer verlassen und ist mit dem Tuktuk oder mit dem Fahrer ins Stadtzentrum gefahren, dann läuft man locker seine zwei Stunden ohne sich mal irgendwo hinsetzen zu können. Gut, vielleicht hat es bei einem Chai Stall eine kleine Bank. Doch auch dann ist man immer mitten drin im Lärm, Fussgängergewühl und Verkehr.
Wir haben inzwischen verschiedene Wohnungen gesehen, grössere und kleinere, bescheidene und solche von Wohlhabenden. Wenn bei uns die Regel gilt, jeder Person im Haushalt mindestens ein Zimmer, so gilt hier: Schön, wenn die sieben oder neun Personen im Haushalt mehr als zwei Zimmer haben und wir reden hier wohl besser von Zimmerchen. Ehrlich, mir ist es ein Rätsel, wie man diesen Stress auf die Dauer überhaupt aushält. (39 Mio. junge Männer werden nie heiraten können, weil es für sie keine Frauen gibt – Folge der hohen Abtreibungsrate und Kindstötungen bei der Schwangerschaft mit einem Mädchen.)
Ich glaube, nein, es ist eine Tatsache, ich bin noch selten derart früh ins Bett wie in den letzten vier Wochen. Wenn’s dunkel wird, inzwischen so gegen halb sechs, ziehen wir uns in unser Hotelzimmer zurück und geniessen die Ruhe. Und es ist nicht ungewöhnlich, dass wir nach einem Tag draussen in Indien kurz nach acht Uhr in einen gesunden, tiefen Schlaf versinken (wir essen inzwischen abends sehr selten etwas, dafür ausgiebig irgendwann am Nachmittag).
Ob diese vielen Menschen gut für die Zukunft des Landes sind, ob sie überhaupt unter den hier herrschenden Lebensbedingungen eine, sagen wir, zumindest menschenwürdige Zukunft haben – wir haben heute wieder Verhältnisse gesehen, die sich jeder Beschreibung entziehen, wo man sich seinen Schal fest vor die Nase drücken muss, um den Brechreiz zu bekämpfen und gleich neben der Müllhalde, der Kloake – von Abwasser kann bei dieser pechschwarzen Brühe keine Rede mehr sein – und der öffentlichen Versäuberungsstrecke, haust auf dem Trottoir eine Familie mit vier kleinen Kindern. Der Vater ist eben dabei, über einem Holzfeuer in einer umgedrehten Eisenpfanne Tschapatis zu backen – ich weiss es nicht.
Ich denke, keine Regierung der Welt kann das, was hier abgeht, irgendwie in den Griff kriegen.
Wenn man bedenkt, dass das gesamte Abwasser von Delhi ungeklärt in den Yamuna läuft, plus noch der grösste Teil des Mülls der Millionenstadt reingeschmissen wird, dann kann man sich nur wundern, dass es hier in Agra noch Leute gibt, die die Wäsche anderer Leute in dieser – von blossem Auge sichtbaren – Scheisse waschen können. (Ich gehe davon aus, dass unsere Bettwäsche in einer Waschmaschine gewaschen wird; das Hotel gehört einer Holländerin.) Die reiche Schweiz brauchte über zwanzig Jahre, bis alle Abwässer in Kläranlagen gereinigt wurden.
Zuerst: Ich fotografiere aus Prinzip keine Kinder, aber diese wollten unbedingt aufs Bild, nachdem ich den kleinen Shivatempel gleich nebenan fotografiert hatte. Die wollten auch kein Geld sondern fanden das einfach lustig, von diesem Ausländer fotografiert zu werden – es war ein sehr herzlicher Moment.
Nun zum eigentlichen Thema: unser Fahrer hat sieben Kinder (wir haben vier, was sich bei Indern immer gut macht). An der Begründung, weshalb er denn so viele Kinder habe, hat sich gegenüber vor zweiundvierzig Jahren nichts geändert: wegen der Altersversorgung.
Allerdings gibt es da eine neue Komponente: Charlie geht davon aus, dass höchstens zwei oder drei seiner Kinder einen Job haben werden, der es ihnen ermöglichen wird, ihn und seine Frau dereinst zu unterstützen oder gar bei sich aufzunehmen. Früher hatte man viele Kinder, weil man davon ausgehen musste, dass nicht alle das Erwachsenenleben erreichen werden.
Charlie sagt, Indien sei halt eine Supportgesellschaft. Zuerst unterstützen die Eltern die Kinder und nachher die Kinder die Eltern. Auch in dieser Hinsicht bin ich froh, nicht hier leben zu müssen, sondern in einer Selbstverantwortungsgesellschaft mit solidarischen Kollektivabsicherungen leben zu können.
650 Millionen Inder sind zwischen 0 und 30 Jahre alt, hat die NZZ kürzlich im Magazin zum Thema „Mumbai“ geschrieben.