Damals, nach dem zweiten Krieg, dieser Mann mit Holzbein. Er hatte sein Holzbein noch aus dem ersten Krieg mitgebracht. Wir hatten öfters eine Begegnung. Im Wohnzimmer meiner Grosseltern. Er machte sich einen Spass daraus, sein Hosenbein hochzukrempeln. Dann klopfte er mit den Fingerknöcheln seiner linken Hand – der rechte Ärmel war umgeklappt, mit einer Sicherheitsnadel dicht unter der Achsel fixiert – auf sein Holzbein: „Da schau!“ Das Holzbein steckte in einem Schuh, der genauso aussah, wie der andere, den er anhatte. Nur die Wollsocke fehlte. Doch das Bemerkenswerteste an seinem Holzbein waren diese schwarzen Löcher, so gross, wie bei einem Schweizer Käse. „Komm Bueb, steck mal deinen Finger durch, da leben Mäuse drin. Aber pass auf, dass sie dir nicht deinen Finger wegbeissen.“
In der Fondation Beyeler zeigen sie derzeit 200 Werke des Surrealismus. Arp, Ernst, Picasso, Dali, Magritte, de Chirico, Breton, Tanguy, Brauner, Seligmann, Delvaux und selbstverständlich Giacometti – alle sind sie in Riehen versammelt.
„Ich glaube“, proklamierte André Breton 1924, „an die zukünftige Auflösung der, scheinbar so widersprüchlichen, Zustände von Traum und Wirklichkeit in einer Art absoluter Realität oder Surrealität, wenn ich es so nennen darf.“
Weil sich der Surrealismus mit literarischen, psychologischen und philosophischen Fragen beschäftigt, lag es nahe, dass er in den frühen 70-Jahre für die Indienfahrer eine faszinierende, für uns völlig neue Gedanken- und Bildwelt öffnete.
Begeistert haben nicht nur die Bilder, Fotografien und Skulpturen. Die Künstler selbst faszinierten uns mit ihrer Ernsthaftigkeit und Konsequenz, mit der sie sich ihrer Ideen verschrieben. Das war auch eine politische Bewegung, jedoch ein völlig andere als die der 68er-Linken, die zu der Zeit zur grossen Welterklärung ansetzte.
So ist es wenig erstaunlich, dass man sich darum stritt, was denn dieser „Surrealismus“ überhaupt sei. Breton setzte1924 der heftig geführten Diskussion mit seinem Manifest ein Ende:
SURREALISMUS, Substantiv, m., reiner, psychischer Automatismus, durch welchen man, sei es mündlich, sei es schriftlich, sei es auf jede andere Weise, den wirklichen Ablauf des Denkens auszudrücken sucht. Denk-Diktat ohne jede Vernunft-Kontrolle und außerhalb aller ästhetischen oder ethischen Fragestellungen.
1972 bin ich dann – bei der Büchergilde Gutenberg! – auf das Standardwerk „Dada und Surrealismus“ von William S. Rubin gestossen. Sein Buch war eine Offenbarung. Ich hatte zu der Zeit einen 2-Tages-Job. Immer Montag und Dienstag kümmerte ich mich um die Lagerbuchhaltung eines kleinen Importunternehmens. Den Rest der Woche hatte ich genügend Zeit, um mit meinem Hund spazieren zu gehen und zuvor und danach zu lesen.
Oder ich bin mit dem Döschwo nach Venedig gefahren, um im Guggenheimmuseum die Originale zu sehen, dann noch eine Pizza und später am Abend auf dem Weg zurück, im Auto übernachten, wo eine Matratze den Rücksitz ersetzte. Eine Auswahl hängt derzeit in Riehen in einem speziellen Peggy Guggenheim-Raum.
Viele alte Bekannte sind in Riehen versammelt.
Als ich gestern die Ausstellung besuchte, dachte ich, da hast du deine Zeit damals nicht einfach verplempert.