Kürzlich, als wir der Themse entlang spazierten, während ein Schleppkahn auf der Höhe der Tate Modern gegen das flussaufwärts drückende, ockerfarbene Brackwasser ankämpfte und der vielstimmige innere Monolog, der auch schon mal in eine nervige Kakofonie widerstreitender Bilder und Worte übergehen kann, jetzt müssiggängerisch dahingleitete und deshalb diesen und jenen durchaus brauchbaren Gedanken lieferte, just in diesem Moment hatte ich ein Déjà-pensé.
Da löst sich unvermittelt ein einzelner Gedanke aus diesem vielschichtigen Kopfgemurmel – ein Gedankenblitz.
Und man weiss nicht warum.
War es der Mann mit der signalroten Mütze, der an der Reling des Schleppers stand und zu uns herüberblickte? Dieser anfänglich unschuldige Gedanke nahm Fahrt auf, wie der Zug auf einem Roller-Coaster beim langsam-steilen Anstieg, um dann ohne Warnschild runter in die Acht der Bahn zu stürzen. Er donnerte mit voller Wucht in den Solarplexus.
Der Gedanke war: Jetzt werde ich dann auch schon siebzig.
Er hatte sich als Scherz getarnt, kam daher als unbedacht hingeworfene Bemerkung.
Einer von den vielen Gedanken und Bildern halt, die sich auf langen Spaziergängen von selbst einstellen, losgelöst von dem, was wir als Ich zu sein behaupten.
Erst als er in der bei Männern sensiblen Magengrube aufschlug und der Nachhall alles andere in meinem Kopf verstummen liess, wurde mir die Dramatik dieses Gedankens bewusst.
Ich blieb stehen.
Ich schaute auf die Themse. Der Schlepper mit dem Containerkahn am Stahlseil kämpfte noch immer gegen die entgegenströmende Flut. Nur der Mann mit der signalroten Mütze stand nicht mehr an der Reling.
Siebzig – das war damals, als die Beatles «When I’m sixty-four» sangen, noch unvorstellbar weiter weg als dieses um Lichtjahre entfernte 64. Und anders als heute waren die Leute damals schon jenseits der 50 uralt und hatten von kaum mehr etwas eine Ahnung. Schon gar nicht von den Beatles und den Stones. Ende Mai werde ich 68.
Ich denke, es liegt an dieser verfluchten 8.
Die X8er-Geburtstage, diese Vorboten des nächsten runden, sind Parias und deshalb keine Feier wert.
Mit Ausnahme dieses Achtzehnten, an den ich mich noch gut erinnere, weil ich mich gefreut habe: Hey, jetzt bin ich dann schon zwanzig! Aber die anderen? 28 – ich werde bald dreissig und damit ist Schluss mit Jugend. 38 – der Mist ist geführt, aus dieser Tretmühle kommst du nie mehr raus. 48 – ich habe mir jetzt ein Motorrad angeschafft; eine Harley? – nein eine BMW Cruiser, ich hab doch keine Midlifecrisis. 58 – fuck, noch sieben Jahre, der Job geht mir echt auf den Sack, werde wohl demnächst aussteigen.
Und jetzt 68.
Ich habe keinen Grund zum Klagen. Weil ich schon seit Jahren im immer besten aller Jahre lebe. Der Unterschied zu früher ist einzig die dramatisch gesunkene Summe der Sachzwänge. Seit ich die 63er-Marke genommen habe, liegt sie nur noch im einstelligen Prozentbereich. Was man mit Freiheit umschreiben kann. Gepaart mit der altersweisen (!) Erkenntnis: Luxus bedeutet bewusster Verzicht auf anständigem Niveau. «Reduce it to the max», aber mit Qualität.
Ich zahle noch immer AHV.
Nachdem ich demnächst eine weitere X8er-Hürde überspringe, bin ich echt gespannt, wie das mit dem 78. sein wird. Nochmals dieses Huch? Und beim 88., die grosse Gelassenheit oder doch erneut ein kurzer Schreck? Wie auch immer – ich lasse Sie es wissen. Versprochen.
Zuerst erschienen in der Basler Zeitung vom 29. April 2017.