Beruflich bin ich derzeit mit verschiedenen Krisenszenarien beschäftigt.Obwohl es sich um völlig unterschiedliche Problemstellungen handelt, gibt es dennoch grundsätzliche Übereinstimmungen.
Zum Beispiel: Krisen zeichnen sich dadurch aus, dass die Betroffenen sie zunächst gar nicht als solche erkennen. Und b) wenn sie nicht mehr abzuwenden ist, man sich an seine Argumentationslinie klammert, weil sie plausibel scheint und erst noch verständlich formuliert ist.
Eine Interpretation der Lage also, die man als Illusion bezeichnen kann.
Was einfach zu lösende Probleme zu einer Krise wachsen lässt, ist das, was die Angelsachsen als „rearview mirror syndrome“ bezeichnen. Der Blick in den Rückspiegel gibt Sicherheit.
Dabei handelt es sich lediglich um ein psychologisches Phänomen, das uns Glauben macht, dass das, was war, auch das ist, was jetzt ist.
Woraus wir schliessen: Die Welt war gestern ziemlich in Ordnung, also muss sie es auch heute noch sein.
Deshalb wird sich kaum jemand finden, der sagt: Die Schweiz befindet sich derzeit in der schwersten politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Krise der letzten fünfzig Jahre.
Selbstverständlich habe ich heute die Jubel-Meldung des Seco auf Twitter gelesen, wo von Krise nichts zu sehen ist.
Im Gegenteil, die Schweiz hat die Corona-Krise besser überstanden als viele andere OECD-Länder.
Jubel auch im Rückspiegel: Wir sind halt doch besser als die anderen (sprich: Die Trottel in der EU)!
Solche Meldungen sind nichts als Kosmetik, welche die systemische Krise der Schweiz für ein paar wenige Stunden zudecken.
Wichtig ist nicht die Momentaufnahme, sondern die Begleitkommentare zur Meldung: Alle Branchen klagen über den akuten Fachkräftemangel.
Der Blick nach vorne: Was die Schweiz auch immer tut, daran wird sich nie mehr etwas ändern.
Selbst wenn man die Grenzen für Arbeitskräfte aus aller Welt öffnet.
Womit man sogleich aufs nächste Problem aufschlägt: Die Einwanderung im Allgemeinen und die Personenfreizügigkeit für EU-Bürger im Besonderen.
Diese Fragen lähmen den politischen Betrieb schon seit Jahren und spalten das Land scharf entlang der 50-Prozentgrenze (politische Krise).
Zum Krisenmix kann man noch die Stichworte Lieferkettenprobleme, explodierende Rohstoff- und Energiepreise, Demographie, die Rentenfrage, die Mindeststeuer, die Errosion der Bilateralen und so weiter und so fort hinzufügen.
Schliesslich bereichern noch allerei querdenkende Gruppierungen den öffentlichen Diskurs, in dem sie beweisen, dass völlig absurde Behauptungen von sehr vielen als plausible Erklärungen verstanden werden.
Um das Schlamassel abzurunden, können wir die russische Bedrohung, das chinesische Streben nach Dominanz, die Schwäche des amerikanischen Präsidenten, die Uneinigkeit unter den EU-Mitgliedern, den Klimawandel, das Artensterben, die Inflation, der schwache Bundesrat, die absurden Abstimmungen, Corona und so weiter und so fort hinzufügen und die Krise wird zu dem, was alle Krisen sind: chaotische Systeme.
Wollen wir Ordnung schaffen, müssen wir die Konzepte und Verfahren von gestern vergessen.
Wir müssen die Schweiz Stück für Stück neu denken.
Pius Helfenberger meint
Scharf beobachtet und analysiert!
Wenn der Reformwille fehlt, resultieren Krisen, wie wir sie jetzt sehen müssten, wenn wir nicht diesen verdammt bequemen Blick in den Rückspiegel hätten.
Eine fatale Ausgangslage, wenn ein Totalversagen des Bundesrats in den Verhandlungen mit der EU hinzukommt, insbesondere wenn dieser den Weg zu einer Normalisierung unseres Verhältnisses zur EU nicht vorzeigen kann oder will. Es wird nicht mehr sehr lange dauern, bis der Leidensdruck übergross sein wird. Man könnte meinen, das heutige BaZ-Interview mit dem EU-Parlamentarier Christophe Grudler mit der Aussage «Es braucht jetzt ein Zeichen des guten Willens der Schweiz» sollte eigentlich die Augen öffnen. Ich fürchte aber, es wird bei vielen lediglich den Blick in den Rückspiegel verstärken.
U. Haller meint
Man lese nur wieder einmal Friedrich Dürrenmatts berühmte Gefängnis-Rede von 1990…
Sissachr meint
Und dann gibts da noch diese Sicht: Alles was gut ist, ist wegen uns gut. Und an allem, was schlecht ist, sind die anderen Schuld: Die EU, die Chinesen, die SVP, die SP, die Politiker, die Regierung, die Grünen, die Reichen, die Antifa, die Faschos, die Schwurbler, die Autofahrer, die Autoverhinderer, etc., etc. Man hört selten: Läck, lag ich da falsch.