https://youtu.be/D8HEY6rpDRU
Was mich am „Roman eines Schicksallosen“ des ungarischen Schriftstellers Imre Kertész fasziniert, ist dieser Perspektivewechsel, den man schon nach wenigen Seiten erlebt.
Statt aus heutiger Sicht zurückzuschauen auf das Schicksal eines fünfzehnjährigen Budapester Juden, der nach Auschwitz deportiert wird – wir wissen ja, wie’s ausgegangen ist – versetzt uns Kertész mit seiner nüchternen Sprache zurück in den Zustand, der für Millionen von Juden und anderer Deportierter damals die schlichte Realität war: in die völlige Ahnungslosigkeit darüber, was danach und danach und danach und danach mit einem geschehen wird.
Der deutsche Komiker Mittermeier hat diese bekannte Szene, wo er erzählt, wie er sich mit seiner Freundin den Film „Titanic“ anschaut und als Bratt Pitt die Gangway hochgeht er ihm im Kinosaal zuruft: „Geh nicht auf dieses Schiff – ES WIRD SINKEN!“ Das ist deshalb witzig, weil er die Pointe des Films verrät, die alle kennen.
Wenn also in der gerade aktuellen politischen Diskussion in der Schweiz einmal mehr der Nationalsozialsmus herhalten muss, gar zum Hakenkreuz gegriffen wird, um die aktuelle politische Lage vermeintlich mit dem Warnruf auf den Punkt zu bringen: „Pass auf – das könnten Nazis sein“, dann ist das keine Pointe, obwohl jeder weiss, dass Adolf tot ist und mit ihm die Nazibewegung unterging.
Diese Art der Argumentation verstellt den Blick auf die Gegenwart und selbst-täuscht darüber hinweg, dass man die Umwälzungen, die uns scheinbar wie ein Strudel in die Tiefe ziehen, genau so wenig versteht, wie die, denen man unterstellt, sie seien verblendete Anhänger eines Verführers.
Klammer: Interessant ist, dass die Diskussion, die in der Schweiz in Sachen Zuwanderung stattfindet, in allen anderen europäischen Ländern entlang der selben argumentativen Frontlinien geführt wird; selbst in einem Common-Sense-Land wie England.
Es gilt deshalb die Perspektive zu ändern, damit man das aktuelle, uns tatsächlich betreffende Phänomen, nämlich der Untergang der Mitgliedschaftsparteien und der Aufstieg der Monothematischen Shitstormbewegungen, analysieren kann. Und verstehen kann, was sich da eigentlich genau abspielt.
Wenn schon zurück in die Geschichte schauen, dann könnte man die Jugendunruhen der 80er-Jahre als Ausgangspunkt für eine vertiefte Diskussion wählen. Die Forderung „Freie Sicht aufs Mittelmeer“ ist so absurd, wie der Wunsch nach einer von Straftätern befreiten Schweiz. (Warum soll ein Schweizer Einbrecher ein besserer Mensch als einer aus dem Kosovo sein?)
Wenn wir auch künftig davon ausgehen müssen, dass es in der Politik keine auf Dauer gültigen Antworten gibt, das Ganze vielmehr eine Addition von Fehlentscheiden und Irrtümmern ist, die hin und wieder zu glücklichen Zufällen führen, die Summe aller Probleme also immer gleich bleibt, kann man die überwiegende Anzahl offener Fragen etwas nüchterner angehen.
Weil es folgerichtig immer nur um Schadensbegrenzung geht.
PS: Der Bürgerkrieg im Kongo kommt ins 22ste Jahr, der peruanische – völlig aus den Schlagzeilen verschwunden – ins 36ste und in Afghanistan kämpfen sie schon seit 37 Jahren gegeneinander. Warum also sollten wir ernsthaft davon ausgehen, dass der syrische Bürgerkrieg in ein, zwei Jahren beendet wird? Eine Einsicht, die konsequenterweise zu einer anderen Flüchtlinspolitik führen müsste.