Wir sind derzeit in Japan unterwegs.
Aus Neugierde.
Weil ich endlich wissen will, wie die Japaner ticken, die zu Tausenden Jahr für Jahr die Schweiz besuchen.
Tausende von Kilometern mit dem Flugzeug aus rein privater Neugierde zurückzulegen, ist heutzutage für viele eine Provokation.
Von wegen Klimawandel und so.
Dabei ist es ja so, dass je länger die Flugstrecke ist, desto günstiger wirkt sich das auf die CO2-Bilanz des einzelnen Passagiers aus. Was eindeutig mehr für eine Japan-Reise als für den Abstecher nach Barcelona spricht.
In Japan gehe ich meinem liebsten Hobby nach: lange Spaziergänge in unbekannten Städten. Manchmal ist auch ein Ausflug in die Natur mit dabei, wobei in Japan «Natur» eher ein grossartig angelegter Zen-Garten zu sein scheint. Stadtwanderungen, zumal solche ohne weitere Rechtfertigung, sind eine gute Art, sich auf die völlig fremde Kultur einzulassen.
Was gut gelingt in einem Land wie Japan, wo dir die Botschaften auf den gigantischen Werbescreens ein Rätsel bleiben. Ebenso wie die Menschen, die mit dir geduldig darauf warten, dass die Ampel auf Grün schaltet.
Ich bin ein überzeugter Stadtgänger, ein urban walker, wie man das jetzt nennt, weil ich auch beim besten Willen nicht erkennen kann, was denn so toll dabei sein soll, sich einen steilen Bergpfad hochzuquälen, wo dann noch links und rechts sowieso nur Kühe stehen, bei denen man nie sicher sein kann, ob sie auf einen losstürmen.
Japan ist nicht nur was die Schrift anbelangt – drei unterschiedliche Systeme, die gleichzeitig genutzt werden – ziemlich kompliziert.
Es pflegt eine eigene Kultur des Umgangs untereinander.
Klar haben wir vor der Reise eine dieser Fibeln mit guten Ratschlägen gelesen – Schuhe aus, mit Trinkgeldern beleidigt man die Leute oder: die 25 Arten der richtigen Verbeugung.
Trotzdem werde ich das Gefühl nicht los, ständig irgendetwas falsch zu machen.
Was, wie ich gelernt habe, ein ziemlich japanisches Gefühl ist.
Damit wären wir bei der Antwort auf die Frage, weshalb die Japaner trotz Globalisierung so ticken wie seit immer: Ihnen fehlen Fremde, die ihnen andere Möglichkeiten des Zusammenlebens aufzeigen.
Unter den 127 Millionen Japanern leben nur 2,5 Millionen Ausländer. Gerade mal 750’000 besitzen eine Niederlassungsbewilligung. Der Rest sind Studenten und Hilfskräfte mit zeitlich beschränkten Visa. (Japan muss für jeden rechtsgewickelten Populisten das Traumland sein.)
Diese fast schon nordkoreanische Abschottung hat ihren Preis.
Und der heisst: gefangen sein in einem durchritualisierten Leben, um zu vermeiden, dass man sich sprichwörtlich danebenbenimmt und genau so schlimm: dass man miterleben muss, wie der andere das tut.
Um solche für beide Seiten peinliche Situationen zu vermeiden, verneigt man sich vorsorglich und wiederholt so oft wie möglich danke, danke, danke.
Japaner leben in einem hochkomplexen System von Konventionen, Sprache und gesellschaftlicher Stellung, was ihnen verunmöglicht, sich als Individuum zu begreifen.
Keine Frage: Es funktioniert alles wunderbar, und man wird als Reisender mit seinem Problem nie alleingelassen.
Doch Japaner sind nie wirklich locker drauf.
Ich verstehe jetzt, wie den Japanern, die kaum je mit einem Ausländer in Berührung kommen, bei uns zumute sein muss: Sie sind völlig verunsichert.
Sie können diesen Stress nur in der Gruppe unter ihresgleichen aushalten.
Zuerst erschienen in der Basler Zeitung vom 24. Oktober 2018
Hans meint
…und der Westen hat mit Einwanderung keine Probleme? Gunnar Heinsohn hat im September in der NZZ geschrieben, dass Japan es besser macht („Roboter oder Zuwanderer“).
M.M. meint
Die Realität hier in Japan sieht ziemlich anders aus.
Nagasaki verliert Jahr für Jahr zhntausend Einwohner. Die Jungen ziehen und die Alten sterben weg.
Da helfen keine Roboter.