Es gibt Bücher, die sollte man mit einer gewissen räumlichen Distanz zum Objekt des Beschriebenen lesen.
Deshalb hatte ich noch kurz vor unserer Abreise Thomas Maissen: „Die Geschichte der Schweiz“ aufs iPad geladen. Um es vorweg zu nehmen: Ich bin begeistert.
Und auch beruhigt.
Denn es hat sich in den letzten 500 Jahren in den Grundzügen der schweizerischen Politikbetriebs nicht viel verändert.
Man war meistens von Frankreich abhängig, ab und an von den Habsburgern, gehörte zuvor irgendwie zum Heiligen Römischen Reich aber eben doch nicht so ganz.
Und überhaupt: man war über all die Jahrhunderte hinweg untereinander meistens schwer zerstritten. Weil man sich oft nicht anders zu helfen wusste und keine aussenstehende Macht vermitteln wollte, schlug man sich halt die Köpfe ein.
Herr Blocher ist keine Ausnahmeerscheinung, sondern ein schweizerischer Archetyp, die konservative, „nationale“ Sicht der Dinge der SVP ein durchgängiges Muster und den Stadt-Land-Gegensatz hat’s auch schon immer gegeben.
Zu schweizerischen Eigenart gehört auch der Hang, über heldenhafte Schlachten „für die Freiheit“ zu fabulieren. Wobei damals wie heute ziemlich unklar war und ist, was mit „Freiheit“ gemeint sei:
Freiheit dank Geblüt, meinten die Berner Patrizier; Freiheit dank Wohlstand, sagten die Zürcher; Freiheit dank kaiserlichen Briefen, dachten die Innerschweizer; und für die Aufklärer war es Freiheit dank Bildung, die zu Tugend führte.
Schön auch zu wissen, dass man nicht erst heute sondern schon immer den Vertragspartnern ganz gehörig auf den Keks ging. Weil man sich nie einig war.
Dies kann sehr gut mit folgenden Zitat gezeigt werden. Um was es genau 1798 an einer Tagsatzung in Aarau ging, ist hier nicht so wichtig, köstlich finde ich vielmehr, was dann geschieht:
Als der Vorschlag aufkam, musste allerdings zuerst eine Kommission gebildet und ein Gutachten verfasst werden, das den kantonalen Räten vorgelegt wurde, weil in den bindenden Instruktionen der Gesandten keine Bundesbeschwörung vorgesehen war.
Nun kann man „Aarau“ durch „Brüssel“ ersetzen und „Tagsatzung“ durch „Verhandlungen mit der EU et voilà.
Und noch zwei bemerkenswerte Highlights: Die Gotthard-Eisenbahnstrecke wurde auf (auch militärischen) Deutschlands und Italiens gebaut und von diesen mifinanziert. Guess what: die Kantone hatten Krach wegen der Linienführung.
Die Juden in der Schweiz (besser im Kanton Aargau) wurden erst auf Druck der USA und Frankreichs zu gleichberechtigten Bürgern. Zuvor hatte der Kanton Aargau in einer kantonalen Abstimmung dies abgelehnt.
Wer sich für Politik interessiert, für den ist Mosers Buch eine erfrischend geschriebene Pflichtlektüre.
Ein Höhepunkt ist wohl das Kapitel über den Wienerkongress, als die europäischen Mächte, die einmal mehr mit unterschiedlichen Positionen auftretenden Schweizer zwangen, endlich ein europäische Nation zu werden.
Damit sie endlich Ruhe geben.
Um keinen falschen Eindruck zu erwecken: Es ist schon vergnüglich, mitzuverfolgen. wie sich die Eidgenossen durch all die Widerwärtigkeiten der Jahrhunderte durchgewurstelt haben, auch unter Opfern.
Vielleicht kommt man dem Volkscharakter dieses Nichtvolkes mit dem Adjektiv „eigensinnig“ am nächsten.
Im breitesten Sinn dieses Wortes
PS, das noch: Die Schweizer Geschichte handelt ausschliesslich von Männern.