Journalisten haben so einen Reflex: Passiert was Grösseres im Ausland, wird versucht, das Thema mit der Frage für den Inland- oder gar den Lokalteil aufzupeppen: „Könnte das auch bei uns passieren?“
Weshalb aufgrund der Ereignisse in den USA gefragt wird: „Gibt es auch bei uns Rassismus?“
Die wenig überraschende Antwort: Na klar doch.
Allerdings ist der Vergleich mit dem Alltagsrassismus bei uns und dem, was sich derzeit in den USA abspielt, so unsinnig, wie der Vergleich, sagen wir, zwischen einem Cashmere-Pullover und einem aus Baumwolle.
Beides sind Pullover, selbstverständlich, aber die Herkunft der Wolle ist eben völlig verschieden.
Während das Übel des Rassismus in den USA auf die Sklaverei zurückgeht, ist bei uns die Fremdenfeindlichkeit dessen Triebfeder.
Weshalb in der Schweiz nicht allein die Hautfarbe diskriminierende Reflexe auslösen kann, auch die Endung „–ić“ im Namen oder die religiöse Überzeugung kann die Chancen auf einen gesellschaftlichen Aufstieg verhindern.
Wer die Proteste in den USA verstehen will, muss sich mit amerikanischer Geschichte befassen. Nochmals: Der US-amerikanische Rassismus wurzelt in der Sklaverei, weshalb es nicht von ungefähr kommt, dass ausgerechnet jetzt in Richmond, Virginia, die Reiterstatue des Südstaaten-Generals Rober E. Lee vom Sockel geholt werden soll.
Es gibt diese zwei Wahrheiten der USA: Die eine ist die vom Land of the Free, welche sich 1776 eine Verfassung gaben, die mit der selbstbewussten, ja für die damalige Zeit revolutionären Feststellung „We the People“ beginnt, also an der Stelle steht, wo in der schweizerischen Bundesverfassung auch im Jahr 2020 noch immer obrigkeitsgläubig mit „Im Namen Gottes des Allmächtigen!“ begonnen wird.
Doch unter „We the People“ verstanden die Gründerväter lediglich die Weissen (Männer), was zur zweiten Wahrheit führt: Der Erfolg der USA ist auf dem Fundament der Sklaverei gebaut.
Im August 1619 trafen die ersten 20 Schwarzen Sklaven aus Afrika in Virginia ein.
Zwischen 1600 und 1800 wanderten eine Million Europäer nach Amerika aus, „und im gleichen Zeitraum wurden zweieinhalb Millionen Afrikaner gewaltsam dorthin verbracht“. Schreibt die amerikanische Historikerin Jill Lepore in ihrer im März in der deutschen Übersetzung erschienen Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika „Diese Wahrheiten“.
(Wer verstehen will, muss dieses Buch lesen.)
Wie es sich für aufgeklärte, belesene und juristisch gebildete Kolonisten gehörte, war die Sklaverei rechtens. Weil der Status der Sklaven, die Regeln für deren Kauf und Verkauf in einschlägigen Gesetzen festgehalten wurden. Zum Beispiel 1740 im „Act for the Better Ordering and Governing Negroes.“
Die Sklaverei wurde von Intellektuellen aufbereitet, zum Beispiel von John Locke, der als „Vater des Liberalismus“ gilt.
Locke hielt trotz des von ihm vertretenen „Naturgesetz“, wonach der Mensch frei sei, in einem Verfassungstext für die beiden Carolinas in einer ziemlich eigenwilligen Interpretation seines Freiheitsbegriffs fest: „Jeder freie Mann in Carolina soll uneingeschränkte Macht und Verfügungsgewalt über seine Negersklaven haben“.*
Doch mit der Sklaverei wurde in den USA noch eine Tradition geboren, die bis heute anhält: Die Rebellion der Schwarzen. Es war keineswegs so, dass sich diese einfach ihrem Schicksal ergaben. „Sie rebellierten wieder und wieder und wieder“ immer mit der gleichen Frage: „Mit welchem Recht werden wir beherrscht.“ (Lepore).
Zum Beispiel 1739 bei einer Rebellion South Carolina, wo die Schwarzen gegenüber den Weissen im Verhältnis von zwei zu eins in der Mehrheit waren, hatten sich mehr als hundert Männer bewaffnet und 20 Weisse getötet, bevor der Aufstand niedergeschlagen wurde.
Die Angst der Weissen vor den Schwarzen war und ist in den USA allgegenwärtig.
Schwarze Sklaven schufteten nicht nur auf Plantagen. 1740 war jeder fünfte New Yorker ein Sklave. Schwarze Sklaven waren die billigen Arbeitskräfte für den Strassen- und Häuserbau; sie servierten den Nachmittagstee.
Die Sklaverei war der Motor der industrialisierten Volkswirtschaft, mit dem wichtigsten Exportartikel, der Baumwolle. Zwar war inzwischen der Import von Sklaven verboten, was keine Rolle mehr spielte, feierte doch der inländische Sklavenhandel Hochkonjunktur: In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden zwei Millionen Schwarze von Virginia und South Carolina nach Alabama, Mississippi und Louisiana verkauft.
Verkauft. Zwei Millionen.
In den USA stehen sich die Nachkommen der Sklaven und die der Sklavenhalter noch immer unversöhnlich gegenüber.
Passt auch noch zum Thema: Der letzte amerikanische Sklave erzählt
Markus Schöpfer meint
Bei allem Respekt, aber meines Erachtens hat das nichts mehr mit der Sklaverei zu tun. Wie viele Generationen haben sich seit dem 18 Jahrhundert abgelöst? 8, 9, 10 Generationen? Meiner Ansicht nach hat man es vor allem in der 2. Hälfte des 20.Jahrhundert (nach dem 2. Weltkrieg) verpasst, die Eingliederung der schwarzen von Grund auf zu fördern, vom Kindergarten bis zum Erwachsen werden. Zahlreich schwarze haben den Aufstieg zwar geschafft, und es gab sogar einen amerikanischen Präsidenten, der schwarz war. Können Sie sich erinnern? Aber viele haben es nicht geschafft, was daran liegt, dass die Integration nicht genug vorangetrieben wurde. Aber ein Anfang war gemacht. Mit der Ernennung des neuen Präsidenten ging es dann wieder steil bergab. Mit diesem Präsidenten haben viele Leute aufgehört, zu denken, und an das machbare zu glauben. Und das ist das fatalste Ereignis. Mit diesem Präsidenten gibt es keine Visionen mehr. Die gesellschaftlichen Folgen aufgrund dieser Präsidentschaft haben dazu geführt, dass mehr und mehr Schwarze diskriminiert, und letztlich auch brutalere Übergriffe der Polizei festzustellen sind. Das fehlende Denken führte zu einer Steigerung der unüberlegten Handlungen. Je mehr Tweets vom Präsidenten, je mehr Degenerieren der Politik, der Gesellschaft und der normalen höflichen Gepflogenheiten. Die Kultur entwickelt sich rückwärts. Und dies nicht nur in den USA, sondern weltweit. Bei uns in Basel gibt es zum Glück noch Player, die wissen, auf was es ankommt. Man weiss, dass es kontraproduktiv ist, die Armen an den Rand zu drängen, oder mit Knüppel gegen Demonstranten vorzugehen. Es wird noch gedacht, und die Solidarität funktioniert noch, aber leider nicht überall.
M.M. meint
Es geht hier um die Frage der Wurzel und die liegt in der Sklaverei.
Jean Ackermann meint
Die Sklaverei wird wahrscheinlich noch in hundert und zweihundert Jahren bemüht! Das Wort wirkt langsam zum Gähnen wie der Hamster im Laufrad und erklärt so überhaupt nichts mehr. Da ist Peter Winklers Interview mit dem Schwarzen Glenn Loury in der NZZ vom 6.6.2020 viel interessanter und erhellender I
«Rassismus existiert, aber er erklärt nicht, was hier passiert»
Walter Basler meint
Und nicht zu vergessen der Beitrag einiger Schweizer zum Aufbau und Erhalt der Sklavenwirtschaft, nachzulesen zum Beispiel hier:
https://www.handelszeitung.ch/unternehmen/schweizer-sklavenhandel-die-schweizer-sklavenhandler
Vielleicht sollten wir uns in Europa nicht all zu sehr die Hände in Unschuld waschen. Wir haben einfach nur das „Glück“, die Folgen dieses Systems, nämlich Millionen von Nachfahren von Ex-Sklaven, nicht unter uns zu haben.
Paul Menz meint
Dieser (für mich) interessante und ausgezeichnete Artikel über dieses Thema hat mich sehr berührt! Klar, wir wissen das ja eigentlich schon, aber wir sollten uns das immer wieder „zu Gemüte führen“.
Ich bin nicht nur beeindruckt, ich bin echt aufgewühlt und traurig, dass wir Menschen immer noch Vieles nicht aus der Geschichte gelernt haben und entsprechend handeln (auch im kleinen Umkreis unseres Lebens).
Ich will jetzt nicht ausführlicher werden und mich einfach bedanken für Ihren unter die Haut gehenden Artikel!