Das Verfassungsgericht der Bundesrepublik Deutschland hat gestern ein bemerkenswertes Urteil gefällt: Weil das eben verabschiedete deutsche Klimagesetz „für die Klimaneutralität nicht ausreicht“, müsse ein Fahrplan für die Zeit ab 2031 vorgelegt werden.
Weshalb das Gesetz nicht in Kraft treten kann.
Dieses Urteil hat auch Folgen für die Schweiz.
Das CO2-Gesetz, über das wir am 13. Juni abstimmen werden, weist denselben Mangel auf, wie die deutsche Gesetzgebung: Es enthält ein Reduktionsziel bis 2030 und was danach kommt – schauen wir mal.
Wobei an der Ernsthaftigkeit der schweizerischen Gesetzgebung ohnehin es bitzeli gezweifelt werden darf.
Zwar hat sich die Schweiz in international bindenden Verträgen verpflichtet, den CO2-Ausstoss bis 2030 gegenüber 1990 um 50 Prozent zu senken.
In Tat und Wahrheit hat die Schweiz bis 2019 lediglich 14 Prozent geschafft und verfehlt damit das 20 Prozent-Ziel 2020 des Pariser Klimaabkommens deutlich.
Doch jetzt soll ein Ruck durchs Land.
Im vorliegenden CO2-Gesetz soll der Ausstoss bis 2030 um jährlich (!) 35 Prozent reduziert werden.
Wie das mit Blick auf die letzten dreissig Jahre erreicht wird, ist wohl eines der vielen Rätsel schweizerischer Politik.
Doch dem politisch Ungefähren wird mit dem deutschen Urteil jetzt eine Absage erteilt.
Auf den Punkt gebracht sagt das Urteil der Karlsruher Richter: Die Zukunft entscheidet über die Gegenwart mit.
Weil in Deutschland genauso wenig wie in der Schweiz die bisherigen Klimaziele erreicht wurden, geht das Gericht davon aus, dass ab 2030 deutlich drastischere Reduktionsschritte als gegenwärtig bevorstehen, will man das 1.5 Grad-Ziel (gemessen am vorindustriellen Niveau) bis 2050 überhaupt noch erreichen.
Was bedeutet, dass die nächste Generation höhere Lasten tragen muss oder wie das Gericht meint: Klimaschulden lassen sich nicht aufschieben.
Weshalb diesem Urteil nicht nur für Deutschland Grunsatzcharakter zukommt, sondern auch für die EU.
Und damit auch für die Schweiz.
Die Logik der Gegner des CO2-Gesetzes, wonach die Schweiz nur einen geringen Teil zum weltweiten Ausstoss beiträgt, ihre Einsparungen also gar nicht ins Gewicht fallen, kollidiert mit der Wirklichkeit der internationalen Wirtschaftsverflechtung.
Sollte sich die Schweiz weigern, fossile Brennstoffe mit CO2-Abgaben auf ein europäisches Niveau zu verteuern, um ihren Klimaverpflichtungen nachzukommen, werden Schweizer Exporte in die EU (und in andere Länder, z.B. in die USA) mit einem CO2-Zoll belegt.
Ein allfälliger schweizerischer Produktionskostenvorteil wird an der Grenze weggezollt.
Dass in der Schweiz nach der Juni-Abstimmung nun eine ähnliche Klage gegen das CO2-Gesetz eingereicht wird, liegt auf der Hand.
Dass Schweizer Bundesrichter zu einem anderen Schluss gelangen als ihre deutschen Kollegen, ist hingegen wenig wahrscheinlich.
Soviel zur Souveränität der Schweiz und der direkten Demokratie.
Rampass meint
Man kann das auch positiv sehen: die Schweiz hat 14% Reduktion seit 1990 geschafft trotz einer Bevölkerungszunahme von 30%. Es wird ja der Gesamtausstoss verglichen und nicht der pro Kopf.
Bekanntlich hatte nicht mal der letztzährige Lockdown zu einer Reduktion geführt, die dauernd erreicht werden sollte, um diese Ziele zu erreichen. Was dann bedeutet, dass ohne Eingriffe, die wirklich weh tun, diese Ziele 2050 das bleiben was sie schon immer waren: eine nicht erreichbare Utopie.
Deutschland hat die Deindustrialisierung bereits eingeleitet. Wer das hier verlangt, der nimmt Kauf, dass der Wohlstand dauerhaft runtergefahren wird, und zwar massiv. Ob die Gletscher dann wieder wachsen? Wie das mit den aus Modellen abgeleiteten Prognosen rauskommt, beweist die „Swiss National COVID-19 Science Task Force“ beinahe in Echtzeit: die Realität macht nicht das, was die Theorie will.
Michael Przewrocki meint
Hat die 28mm Leica-Kamera Wasserwaage oder wurden Hilfslinien eingeblendet um Senkrechten lotrecht zu haben? oder wurden dies mit ShiftN erreicht?
Phil Bösiger meint
Bravo, zum ersten Mal überhaupt in der Medienlandschaft lese ich diesen Satz:
„Ein allfälliger schweizerischer Produktionskostenvorteil wird an der Grenze weggezollt.“.
Sowas von sonnenklar, dass die Schweiz mit einer egoistischen Produktionskostenoptimierung nach Ablehnung der CO2-Vorlage nicht so einfach davonkommen wird.
Natürlich, für die SVP leben wir auf der nur durch Einwanderung gefährdeten, autarken Insel der Glückseligen. Um uns der Abgrund der pöhsen EU, ganz im Sinne der geistigen Landesverteidigung aus der Ära Traugott Wahlen.
Die Realität ist eine andere, mit einem jährlichen Handelsvolumen von CHF 270 Mia mit der EU.
Zum Vergleich: die Wertschöpfung der CH-Landwirtschaft lag 2019 bei CHF 4.2 Mia.
Mit einer Ablehnung der CO2-Abgabe haben wir nach der MEI endlich wieder Mal die Chance, unter Führung der SVP unserer Exportwirtschaft ein kapitales Eigengoal zu schiessen. Ganz abgesehen von der „Leckt-uns-doch“ – Message an unsere Nachfahren und die Umwelt.
Franz meint
Der Stärkere kann durchsetzen was er will.
Punkt.
Was ich hingegen nie verstehen kann ist der Jubel darüber einiger meiner Zeitgenossen.
Und das in einem Land und einer Zeit in der jede auch nur klitzekleine Minderheit sorgfältig geschützt werden soll, und über mehr Macht verfügt als ihr eigentlich zusteht.
Passt nicht zusammen.
Thomas Kessler meint
Treffend, über CO2 hinaus, auch für die arg schrumpfende Biodiversität und Rentensicherung – auf Kosten der Jungen.
Ueberschlag meint
Geht in der Schweiz prozessual aber nicht. Bundesgesetze können nicht abstrakt auf ihre verfassungsmässigkeit überprüft werden.
M.M. meint
Richtig, wir haben kein Verfassungsgericht. Aber weil es sich bei Juristen um Interpretationskünstler handelt, wird denen schon was einfallen. Zum Beispiel Verstoss gegen Gesetze.
Hingegen wird der sogenannte „Generationenvertrag“ aufgrund dieses Urteils auch in der Schweiz ein anderes Gewicht bekommen.
Franz Bloch meint
Auch juristische Interpretationskünsterinnen und -künstler schaffen noch keine Bundesverfassungsgerichtsbarkeit. Leider!