Mit der Ankündigung von Novartis, es immer beim Homeoffice für ihre Angestellten zu belassen, hat zum einen Signalwirkung und zum anderen ist sie der Beginn einer Veränderung dieser Stadt, wie man sie zuvor kaum je gesehen hat.
Was das Tempo anbelangt.
Die lange Geschichte des Büros, wo Menschen an ihren Schreibtisch gekettet, ihr halbes Leben verbrachten, scheint sich ihrem Ende zuzuneigen.
Weil mit dem Homeoffice – ein neudeutsches Wort wie Handy – ein grundlegender Wandel der Arbeitswelt eingeläutet wird.
Erstens sind Breitbanddienste heute schnell genug, um das Herunterladen von Dokumenten und die Kommunikation via Videokonferenzen zu ermöglichen. Zweitens drehen sich fortschrittliche Volkswirtschaften um Dienstleistungen und nicht um die Produktion.
Und nicht nur das hat die Arbeit vom Homeoffice aus sowohl normal als auch akzeptabel erscheinen lassen. In der Vergangenheit sahen sich Mitarbeiter, die zu Hause blieben, dem Verdacht ausgesetzt, sich einfach eine schöne Zeit zu machen.
Der wegen Corona verordnete Zwang zum Homeoffice hat das Gegenteil bewiesen.
Jetzt gelten diejenigen, die darauf bestehen, ins Büro zurückzukehren, als unselbständig.
Grundlegende Veränderungen im menschlichen Verhalten, die sonst Jahre, manchmal Jahrzehnte benötigten, werden innerhalb weniger Wochen zur neuen Selbstverständlichkeit.
Wobei man die weltweite Abkehr vom festen Arbeitsplatz irgendwo in der City nicht allein auf Corona zurückführen kann. Homeoffice ist die logische Konsequenz einer längeren Entwicklung.
Beispiel Google, das schon vor Jahren ihre Büros zu Wohnlandschaften umgestaltet hat oder andere Firmen, in deren Grossraumbüros es für die Angestellten schon lange keine fest zugeteilten Arbeitsplätze mehr gibt.
Doch alle diese neuen Arbeitsplatzmodelle hatten einen entscheidenden Nachteil: Sie zwingen täglich Zehntausende von ihrer Wohnung zum Arbeitsplatz zu pendeln.
Weshalb man Milliarden in den Ausbau der Öffentlichen Verkehrssysteme pumpte, um die täglichen Pendlerströme bewältigen zu können.
Und jetzt das: Quasi über Nacht werden sich diese enormen Investitionen nicht mehr rechnen.
Der schleichende Millionenschwund der letzten Jahre an Passagieren, den die BLT und die BVB verzeichneten, wird sich wohl ab diesem Jahr in einer steilen Abwärtskurve fortsetzen.
Eine Konsequenz der Novartis-Entscheidung: Auf die Steuerzahlen kommen immense Summen an Defizitzuschüssen an die ÖV-Betriebe der Region zu.
Nun wird Novartis nicht die letzte grosse Firma in Basel bleiben, die nie mehr zum alten Büroregime zurückkehren wird. Die Grossunternehmen können es sich schlicht nicht leisten, im Herbst, wenn die Grippesaison beginnt und Corona zurückkehrt, aufgrund von Positivtests hunderte von Mitarbeitern in Quarantäne schicken zu müssen.
Abgesehen vom wirtschaftlichen Schaden, wird sich niemand diesem Reputationsrisiko aussetzen wollen.
Wir können also davon ausgehen, dass bei Roche, dass bei Banken und Versicherungen, dass bei Anwaltskanzleien und anderen Freiberuflern, ja selbst beim grössten Arbeitgeber, dem Kanton, Homeoffice noch dieses Jahr zur Norm werden wird.
Anfangs Mai habe ich die Frage gestellt:
Seit der Pandemie hat sich der soziale Kontakt zum ultimativen Übel entwickelt, so dass man sich beim Blick auf den hochschiessenden zweiten Roche-Turm fragen kann: “Ist das noch zeitgemäss?”
Novartis gibt die Antwort: Sie will einen Teil ihrer bald leerstehenden Büros vermieten.
Homeoffice wird immense, dauerhafte Folgen für unsere Wirtschaft, wie wir wohnen und überhaupt auf unsere Lebensweise haben.
Und den Tod des Pendlers bringen.
angrymonk meint
Der Anteil an Pendlerinnen und Pendler, die den öffentlichen Verkehr als Hauptverkehrsmittel für den Arbeitsweg einsetzen, beträgt in Baselland 37.1 % (Quelle: Bundesamt für Statistik). Die Gemeinden im unteren Baselbiet kämpfen seit Jahren gegen die Blechlawinen im Leimental, im Birstal aber auch im Rheintal. Der motorisierte Individualverkehr mag für die Nutzer attraktiv sein (mal abgesehen vom Stau vielleicht), für die Einwohnerinnen und Einwohner der betroffenen Gemeinden ist er schlicht nur ein Ärgernis und für die Gemeinden selbst mit deutlichen Attraktivitätsverlusten verbunden. Der langen Rede kurzer Sinn: BVB und BLT haben noch ein grosses Marktpotenzial. Die Politik ist gefordert, den motorisierten Individualverkehr auch zum Wohle der Umwelt zurückzubinden, die Transportunternehmen sind andererseits gefordert, mit attraktiven Angeboten und neuen Mobilitätskonzepten die Kundinnen und Kunden abzuholen. Das sollte doch eigentlich möglich sein?
Franz meint
„BVB und BLT haben noch ein grosses Marktpotenzial“
Nein die beiden Schleicher haben kein Potenzial mehr.
Jeder Ausbau macht sie noch langsamer.
Es ist die S-Bahn die man verschlafen hat und jetzt nicht mehr umsetzbar ist.
Marc Baumgartner meint
Ich gehe eher davon aus, dass die meisten Leute zwar deutlich mehr, aber sicher nicht ausschliesslich im Homeoffice arbeiten werden. Z.B. 3 Tage zu Hause, 2 Tage im Büro, wo man mit ein, zwei anderen Leuten den Schreibtisch teilt. Die sozialen Kontakte zu den Kolleginnen und Kollegen sind zu wichtig, als dass man sie ganz abstellen darf: Ein gutes Team funktioniert dann optimal, wenn man sich richtig kennt und sich vertraut. Videokonferenzen können das nur ansatzweise ersetzen, gerade für wichtige Entscheidungen muss man zusammensitzen und „sich wahrnehmen“ können. Wir sind schliesslich Wesen, die nicht nur über Aug und Ohr (im Fall von Homeoffice beides noch datenreduziert) funktionieren.
Christoph Hablützel meint
Prima Artikel und ja, so wird’s wohl werden.
Heisst: Neue Zukunftsszenarien kreieren für unseren Stadt- und Kantonsentwickler. … dessen Name mir jetzt aber grad entfallen ist ;-).
Zu eruieren wäre jetzt noch (und sehr interessant), wie viele aller Jobs in BS, BL, SO, AG (insbesondere in der Pharmabranche) ‚Pultjobs‘ sind und damit Homeoffice-tauglich bzw. wie viele Jobs eine Stätte benötigen (Produktion, Bau, etc.) oder sonst Homeoffice-untauglich sind.
Michael Przewrocki meint
In die Stadt wird weiter gependelt wenn auch nur zum Bier und zu anderen Vergnügen. Wenns heiss ist am Besten mit der BLT Rundfahrten machen. Dort ist garantiert meist kühl.
Franz meint
Wär ich Arbeitgeber hätt ich weniger Hemmungen einen Chuchitisch-Arbeitsplatz zu verschieben oder einzudampfen.
Ist ja unsichtbar…
Henry Berger meint
…und wenn mal der erste grosse Fall einer Datenschutz-Verletzung bekannt wird, so sieht das ganze wieder anders aus. Persönliche Bankdaten oder heikle Krankenkassendaten welche am Küchentisch in St. Louis, Lörrach oder Liestal bearbeitet werden – weiss nicht ob das alle Kunden so prickelnd finden… und die Auszubildende wird auf die „Stör“ geschickt?
Franz meint
Werden die ganzen Daten nicht schon längst in der Slowakei, Polen oder Indien verwaltet?
Rolf Müller meint
Home Office dürfte mit Sicherheit einen massiven Ausbau aller Datennetze erfordern damit das Web nicht eines Tages zusammenbricht. Denkt man auch daran bei Swisscom & Co.? Und wer bezahlt dies alles?
Christoph Meury meint
Logischerweise wird Roche nachziehen. Heisst aber, dass der 2. Roche-Turm bereits obsolet ist und Roche eigentlich einen sofortige Baustopp anordnen müsste. Mit 50 Stockwerken, einer Höhe von 205 Metern und 2’400 Büroarbeitsplätzen, ist der Turm potentiell eine Ruine.
Kurzum: Roche hat mit dem neuen Wahrzeichen 550 Millionen in den Satz gesetzt.
Ein kleiner Virus mit grosser Wirkung und mäandernden Folgen.
Michael Przewrocki meint
Meury als neuer Roche-Berater jetzt!
Baresi meint
Solange die gemeinsamen Termine über die Zeitzonen hinweg organisiert werden können, würde das dann auch das Ende der Expats in der Region Basel bedeuten. Was bedeutet das für Firmenkulturen? Wie werden diese online etabliert und gelebt, wenn es keinen physischen Bezugspunkt mehr z. B. zu einem Campus geben wird?
Franz meint
Homeoffice kann ich auch von London, Polen oder der indischen Pampa aus machen.
Hab da so gemischte Gefühle wenn die fixen Arbeitsplätze langsam verschwinden.
Gerade bei Novartis denk ich immer wieder, die haben es nicht so mit dem Standort Basel.
Phil Bösiger meint
Ich stimme dem Orakel aus Arlese zu. Es braucht vielleicht noch ein paar Monate, aber Homeoffice wird sich bei den innovativen Unternehmungen durchsetzen. Die anderen kann man eh vergessen.
Es ist eine logische Kosten- und Effizienzfrage, der sich keine Unternehmung verschliessen kann:
– Weniger Infrastruktur- und Immobilienkosten bei den Unternehmen.
– Die öffentliche Infrastruktur wird weniger belastet und muss nicht mehr auf die hohen Pendlerpitzen ausgerichtet sein.
– Weniger Pendler’innenverkehr = weniger Verkehrschaos und die Verkehrswege werden für diejenigen frei, die kein Homeoffice machen können.
– Zeitgewinn, da Arbeitswege entfallen.
– Flexiblere und effizientere Arbeitszeiten.
Den Tod des Pendler würde ich nicht feiern, aber die Auferstehung einer zeitgemässen, flexiblen und sozialverträglicheren Arbeitswelt.
By the way: Begrenzungsinitiative – vergesst das Ding, es ist völlig obsolet. Wenn sich Homeoffice erst mal durchgesetzt hat, wird der physische Arbeitsort für viele Unternehmen und Arbeitnehmende völlig nebensächlich. Homeoffice wird beim kommenden Fachkräftemangel zu einem wichtigen Kriterium bei der Jobwahl (bei mir heute schon so). Unternehmen mit Überlebensabsichten und damit dem Bedarf von gutem Personal haben gar keine Wahl.
M.Agostinis meint
Na ja, ob wirklich alles so radikal kommt, ist eher fraglich. Firmen, die mit Homeoffice operieren, sehen durchaus Möglichkeiten, aber auch Fallstricke. Daher: es dürfte alles kommen, aber vermutlich gemächlicher und in abtemperierter Form. Und dass Novartis seinen Campus öffnet, ist schon lang bekannt, schon einiges länger als Corona.