Es gibt so historische Momente, die mich faszinieren. Zum Beispiel dieser Sommer 1918 vor der grossen Katastrophe oder der andere 1939.
Letzterer wird als ein ungewöhnlich schöner, heisser Sommer beschrieben.
Die Menschen fühlten sich unbeschwert, lebten in ihrer scheinbar heilen Welt und genossen das Leben.
Man schaut sich die schwarz-weiss Bilder an und es überkommt einen dieser Mittermeirische Titanic-Moment, wie er im Kino Leonardo DiCaprio und Kate Winslet verzweifelt zuruft: „Geht nicht an Bord – das Schiff geht unter!“
Und die einfach nicht auf ihn hören wollen.
Doch viele waren sich in diesem Sommer sehr wohl bewusst, dass irgendetwas Unausweichliches bevorstand.
„Man sehnte sich förmlich nach dem Krieg“. (Marcel Reich-Ranicki über den Warschauer Sommer 1939).
Der Sommer 2019 – auch der war aussergewöhnlich schön und heiss.
Wobei man diese Beschreibung gleich korrigieren muss: Aussergewöhnlich schöne, heisse Sommer sind heutzutage eher normal als die Ausnahme.
Und gelten als Boten der Apokalypse.
Was, wenn dieser Sommer 2019 ein letzter Sommer vor der grossen Katastrophe wäre?
Ging mir durch den Kopf.
Keine Vorahnung, eine Fantasie, ein Film im Kopfkino bei einer Stracciatella im Arlesheimer Bedli.
Schliesslich war die allgemeine Stimmung ziemlich endzeitmässig, in diesem Sommer vor Corona.
Die Jugend beschwor Freitag für Freitag den Weltuntergang für 2050; der Grosse Rat rief prompt den Notstand aus.
Man muss sich das mal vorstellen, kurz den Notstand ausgerufen und anschliessend dicht an dicht beim Bier.
Dass Fliegen viel zu billig sei, war allgemeiner Konsens. Man buchte trotzdem den Städteflug für kaum ein Geld und sagte zum Kollegen: „Die spinnen doch bei EasyJet.“
Eine Sondersteuer muss her, forderten die Nachbarin und die Politik.
Die Börsen kannten nur eine Richtung: Steil nach oben. Die Bundeskasse drohte zu bersten ob all der Überschüsse.
Überhaupt der Konsum.
Die Mode bei H&M wechselte fast im Wochentakt. Die Trams nach Weil waren propevoll und an der Grenze stauten sich die Autos der anderen Einkaufstouristen.
Und wir waren uns einig: die spinnen doch, die anderen.
Man wusste, dass man eigentlich beginnen sollte, sich in Sachen Konsum zumindest etwas zurückzuhalten, schliesslich endet die ganze Warenflut ohnehin beim Vogelsanger als Müll.
Oder treibt, gemessen an unserer Lebensspanne, auf ewig im Nordpazifikwirbel.
Alle ahnten: So kann es, so wird es nicht weitergehen. Irgendwas muss jetzt geschehen, sonst läuft das Ganze aus dem Ruder.
Man sehnte sich förmlich nach dem grossen Knall.
Dann kam Covid-19 und tatsächlich änderte sich alles von einem Tag auf den anderen.
Man traute seinem Verstand nicht mehr: Weltweit wurde die Wirtschaft praktisch auf Null runtergefahren. Einfach so per Dekret der Regierung.
Wer hätte sich im Sommer 2019 so etwas vorstellen können?
Niemand.
Und man wunderte sich, wie willig sich die anderen und man selbst sich den Anordnungen der Regierung nicht nur unterwarfen, sondern diese auch noch guthiessen.
Wohl auch deshalb, weil man endlich Busse tun konnte für all die Konsumexzesse der letzten Jahre. Gemeinsam mit der ganzen Welt.
Niemand flog mehr und die Autos standen still. Jetzt waren wir alle Greta.
Mehr innige Gemeinschaft geht kaum.
Allerdings traf und trifft die Corona-Krise nicht alle gleich hart. Anders als die Franzosen durften wir zumindest noch raus auf die Strasse zum Spaziergang.
Zum Glück sind wir keine Franzosen, dachten wir in unserer Quarantäne.
Die Einkaufsregale blieben prall gefüllt. Uns mangelte es an nichts, nicht mal an Spargel aus der badischen Nachbarschaft.
Aber jetzt ist genug gelitten.
Wir haben die Corona-Krise über. Jetzt soll’s wieder losgehen. Corona hat sich, tagesstatistisch erwiesen, verschlauft.
Es steht ein neuer Sommer vor der Tür mit Grillparty, mit Badeferien am Meer und Stracciatella im Arlesheimer Bedli.
So ernst war das auch wieder nicht gemeint, mit unserer Sehnsucht nach dem grossen Knall.
Oder?
Marc Schinzel meint
Vergessen wir nicht, dass es uns sehr gut geht. Der Vergleich mit den Weltkriegen und den wunderschönen Sommertagen kurz vor ihrem Ausbruch ist ein Gedankenspiel. Der Bruch, den Corona in unser Leben brachte, ist für die meisten von uns um Potenzen kleiner. In den Monaten nach dem schönen Sommer 1914 wurde in den Schützengräben Flanderns und Verduns inmitten von Gas, Ratten und kniehohem Wasser ums nackte Überleben gekämpft. In den Jahren nach dem prächtigen Sommer 1939 konnte Anne Frank, und mit ihr viele andere, ihre Wohnung nie mehr verlassen. Am Tag musste die Familie mäuschenstill ausharren, nicht mal der Gang aufs WC war möglich. Wir wissen, wo es endete. Heute verzichten wir auf den Weekendflug nach London, das Feierabendbier in der Steine und kriegen Nudeln und WC-Papier manchmal statt am Montag erst am Dienstag. Es gibt auch schwere Schicksale heute. Aber im Krieg oder in einer auch nur entfernt vergleichbaren Situation befinden wir uns bei weitem nicht. In diesem Sinn: Neue Chancen!
gotte meint
es ist jetzt eine binse, was ich sage: aber die sehnsucht nach dem „normal“ ist eine sehnsucht nach dem alten wahn. die gesellschaft als koks-junkie, auf der suche nach dem nächsten kick. die sucht-struktur und das verlangen bleiben, ebenso die fähigkeit, zu verdrängen und sich die dinge schön zu reden. „morgen“ wird’s dann anders…. oder in der anderen variante: die welt ist eh schon hops, was soll’s, let’s party (so wie 1945 im führerbunker). bin leider pessimistisch, was die zunkunft anbelangt. corona ist wohl erst ein vorgeschmack.
M.M. meint
Die im Führerbunker haben sich folgerichtig umgebracht. Die anderen draussen haben danach in die Hände gespuckt.
Ich finde die Zeit ungemein spannend, wir erleben eine Beschleunigung der Prozesse, die schon vor Corona im Gange waren. Im Grunde genommen gibt es nur drei Möglichkeiten: Man verweigert sich, man bekämpft die Veränderungen oder man sieht die neuen Möglichkeiten.
Menschen wie sie sind jetzt gefragt.
Thomas Zweidler meint
Corona wäre/war die Chance, etwas zu ändern auf unserem Planeten!
Etwas zum Normaleren, zum Besseren.
Doch diese Menschheit will nur eines:
So schnell wie möglich zurück zum Alten (Ferien, Konsum, Party, Alles)
Doch:
Dies ist leider nicht der richtige Weg.