Das ist ja jetzt ein regelrechter Running Gag, diese Somm-Titel: Theresa May hat nicht recht.
Eine Zeit der Demut ist angezeigt – für Politiker, aber auch für politische Beobachter wie mich selbst.
Kein Grund zur Besorgnis – Herr Somm steht am Ende seines Kommentars nicht völlig eingeascht da. Doch das Kernproblem der Demokratie hat er sehr gut herausgearbeitet: Sie ist für alle so verdammt unberechenbar.
Und das ist für Ursache-Wirkung-Denker/Politiker ziemlich ärgerlich.
Weshalb sie sich das nur so erklären können, dass die verwirrten Wähler Populisten auf den Leim kriechen.
Ich bin immer wieder erstaunt, wie gut Frau May bei uns ankam. Ich habe es deshalb aufgegeben, das Thema noch ernsthaft zu diskutieren.
Man sah in ihr die starke Frau, die der EU die Stirn bietet. So eine wünschte man sich auch für die Schweiz. Statt diesem Weichei Burkhaltär.
Erklären kann ich dieses verklärte Bild von einer zu allem entschlossenen Frau nur mit dieses Sekundenschnipsel ihrer Auftritte in den TV-Nachrichten und den pointierten Zitaten in den Schriftmedien.
Wer ihr länger und ohne deutsche Übersetzerin zuhörte, bekam mit der Zeit einen völlig anderen Eindruck.
Ich stelle jedoch erstaunt fest, auch eingefleischte Demokraten und Republikaner sehnen sich heimlich nach dem starken Mann. Es kann auch eine Frau sein, aber bitte nur im Ausland.
Ich habe in den letzten Monaten auf BBC mehrere Stunden May geguckt, Reden, Dikussionen, Interviews.
Und ich war noch im Winter beeindruckt von dieser Frau, zum Beispiel von ihrem Auftritt im Sommerset House im Januar (live verfolgt), wo sie ihre Global Britain-Rede hielt.
Wow, dachte ich. Endlich ein Politiker mit klaren Visionen. Die EU-Apparatschiks werden sich an ihr die Zähne ausbeissen.
Aber dann kam nichts mehr. Ausser Variationen dieser Rede. Und spätestens im April hatte ich den Eindruck: Da ist gar nichts ausser den paar Kernsätzen.
Ab Mai ging mir Frau May dann ziemlich auf den Wecker. Ich konnte ihren durch den Fleischwolf gedrehten Mist nicht mehr hören.
Und gleichzeitig blühte da plötzlich dieser Corbyn auf, der, je länger der Wahlkampf dauerte, zu Hochform auflief.
Man mag ihn hierzulande als Linksextremen abtun, einer, der „sich programmatisch ins politische Nirwana“ gebiemt hat.
Doch wenn man um die realen Verhältnisse in England weiss – ausserhalb Londons ein ziemlich verarmtes Land – dann muss man feststellen, dass er die richtigen Themen angesprochen hat.
Klar ist es für uns völlig unvorstellbar, dass ein Politiker ein Gratisfrühstück für alle Schüler verlangt. Aber im verarmten England ausserhalb Londons kommen viele Schüler mit leerem Magen zur Schule.
Und klar ist bei unserem Standard des Gesundheitswesens, wo die Leute den Aufstand proben, wenn sie im Fall der Fälle kein Spital gleich um die Ecke haben, linksextrem, wenn Corbyn die Millionen statt in neuen Trident-Raketen in die NHS pumpen will.
Das britische Gesundheitswesen ist eine Katastrophe. In England gibt es vielleicht zwei, drei grosse Spitäler (in London), welche das Niveau eines schweizerischen Regionalspitals klar übertreffen. Der Rest liegt darunter.
Und für viele Pensionierte ist es tatsächlich ein Problem, im Winter die Gasrechnung fürs Heizen ihrer Wohnung zu bezahlen (in England existiert in der Regel keine Zentralheizung).
Frau May hat ihren Wahlkampf mit fünf, seien wir nachsichtig, mit sechs Sätzen bestritten. Das hat im Juni nicht nur mir nicht mehr gereicht.
Die BBC hat diese brilliante Journalistin Laura Kuenssberg. Ihr Interview am 31. May war für May der öffentliche K.O.-Schlag, als sie sich weigerte, an einer öffentlichen Diskussionveranstaltung mit anderen Parteien teilzunehmen:
Mein persönliches Problem war in den beiden letzten Wochen vor dem Wahltag, dass ich Frau May nicht mehr zugehört habe, sondern nur noch ihre eigenartige Mimik sah. Und diese Nase.
Sorry. Unfair, ich weiss.
h.s. meint
Ich habe nie begriffen warum Leute Jeremy Corbin als Wahlkämpfer unterschätzen. Er hat, obwohl alle ihm als chancenlose Aussenseiter sahen die Wahlen für Partyleader gewonnen. Wo die Westminister-elite ihm los werden möchten, während die Zeitungen von Guardian bis Daily Mail ihm angriffen ein zweite Wahl für Partyleader gewonnen. Wieso soll der Mann nicht in der Lage sein, einen guten Wahlkampf zu machen?
Theresa May ist nicht mal Ansatzweise einen Gegner für Frau Merkel oder Herr Juncker. Viele in der Schweiz (inkl. Markus Somm) glauben, dass Jean-Claude Juncker einen besoffenen unwissenden Burokrat ist. In wirklichkeit ist er eins der gerissenste, aber seit Jahre unterschätzte Politiker von Europa.
Gotte meint
danke, mm, für diese treffliche einschätzung. tatsächlich hat bei uns keiner eine idee über die englischen verhältnisse, die Sie hier sehr schön widergeben. dass somm keine ahnung hat von GB zeigt sich nicht zuletzt in seiner analyse, may sei wegen ihres „linksliberalen wischwaschi“-programms abgestraft worden, darauf muss man erst einmal kommen!