Es wird wohl niemanden wirklich überraschen, wenn ich sage: Mir ist es ziemlich egal, wer neu in den Bundesrat einziehen wird.
Ob Mann oder Frau erst recht.
Ich meine, noch vor fünf, zehn Jahren war ich der festen Meinung, für die Wahl in dieses Gremium müssten die Besten des Landes vorgeschlagen werden. Männer und Frauen also, die mehr geleistet haben, als in Sitzungszimmern in politischen Endlosschlaufen zu drehen.
Aber da war ich auch noch jünger.
Ich habe mich damit abgefunden, dass immer ein Vertreter des Durchschnitts das Rennen macht, egal von welcher Partei und welchen Geschlechts.
Ich gebe zu: Das mit dem Durchschnitt finde ich inzwischen gar mehr so schlecht.
Zieht man die Spitzenpolitiker in England oder Frankreich als Messlatten heran, die durchwegs Eliteuniversitäten besucht haben und sich entsprechend aufführen, dann schneiden unsere Bundesrätinnen und -räte gar nicht so schlecht ab.
Es scheint, als gäbe es so etwas wie einen politischen Lehrsatz: Die Summe allen Versagens bleibt sich immer gleich, egal wie brillant oder durchschnittlich einer oder eine auch sein mag.
Wir halten deshalb fest: Die «Roadshow», welche die FDP mit ihren drei Kandidaten derzeit abspult, ist nichts als eine schlaffe PR-Aktion, die ihr Publikum sucht und nicht weiss, welches.
Sie ist eine Inszenierung mit drei zufällig ausgewählten Personen, die vom Unvermögen der Partei ablenken soll, sich für einen Kandidaten oder eine Kandidatin zu entscheiden.
Weil es den FDPlern wahrscheinlich so geht wie vielen von uns: Weder die beiden Männer noch die eine Frau überzeugen wirklich.
Aber nicht nur deswegen kann man das Dreierticket vergessen.
Die eigentliche Frage ist bei dieser Wahl eine ganz andere: Nehmen die Parlamentarierinnen und Parlamentarier die Verfassung ernst?
Wobei die Krux beim Ernstnehmen in der Sprachversion liegt. Was gilt bei dieser Wahl – die deutsche, die französische oder die italienische Version? (Es ist ja nicht so, dass die Bundesverfassung zu meiner bevorzugten Bettlektüre gehört. Ich habe nur mal so reingeschaut.)
Hält sich die Vereinigte Bundesversammlung bei dieser Bundesratswahl an die deutsche Version, dann kann sie sich durchaus für Frau Moret oder Herrn Maudet entscheiden.
Weil Art. 175, Absatz vier zur Wahl des Bundesrates besagt: «Dabei ist darauf Rücksicht zu nehmen, dass die Landesgegenden und Sprachregionen angemessen vertreten sind.»
Mit anderen Worten: Man hat einen Spielraum nach Gusto. Die Versammlung kann den Tessiner wählen, aber muss nicht.
Nimmt man jedoch die französische Version desselben Artikels und Absatzes als Wahlvorgabe, dann hat die Bundesversammlung trotz Dreierticket keine Wahl – sie muss den Tessiner Ignazio Cassis wählen.
Weil die «Constitution fédérale de la Confédération suisse» anders als in der deutschen Version klar und deutlich vorschreibt: «Les diverses régions et les communautés linguistiques doivent être équitablement représentées au Conseil fédéral.»
Die Sprachregionen MÜSSEN angemessen vertreten sein, was in der italienischen Version mit «devono essere» bestätigt wird.
Weil nun niemand wird bestreiten können, dass das Welschland mit einem weiteren Bundesrat nicht mehr angemessen vertreten wäre, das Tessin hingegen weiterhin völlig unangemessen, bleibt der Versammlung kein Spielraum für Geschmäcklerisches.
Das Rennen ist gelaufen.
andres egger meint
Ich sehe in der deutschsprachigen Version keinen Spielraum „nach Gusto“.
Die Formulierung „ist…zu“ ist als klares Imperativ zu verstehen. Eine Formulierung des Imperativs, welche früher – im Gegensatz zum Hilfsverb „müssen“ – als stilistisch feinere Ausdrucksform betrachtet wurde .
„Ist…zu“ ist also mit „muss“ zu ersetzen bzw. muss mit „muss“ ersetzt werden 😉
„Dabei ist darauf Rücksicht zu nehmen, dass die Landesgegenden und Sprachregionen angemessen vertreten sind“
heisst also
„Dabei muss auf die angemessene Vertretung der Landesgegenden und Sprachregionen Rücksicht genommen werden“.
Henry Berger meint
@Herr Egger: Das Problem ist nicht, ob man nun gemäss deutscher Fassung Rücksicht nehmen soll oder muss. Das Problem ist der Ausdruck „Rücksicht“. Diesen schwammigen Begriff findet man eben weder in der italienischen noch französischen Fassung. Auf französisch heisst es ganz klar und eindeutig, dass die verschiedenen Regionen und Sprachgemeinschaften im Bundesrat angemessen vertreten sein müssen.
Wenn man – Dasselbe mit anderen Worten Bundeskanzlei – als Google Suchbegriff eingibt, stösst man auf einen interessanten wissenschaftlichen Aufsatz zur Problematik von Art. 175 Abs. 4 BV. Ursprünglich lautete die Bestimmung auf französisch:
„Lors de l’élection, on veillera à ce que les diverses régions du pays et les régions
linguistiques soient équitablement représentées“, d.h. in etwa die gleiche unverbindliche Fassung wie die aktuelle auf deutsch. Die eindeutig schärfere und eindeutigere Fassung wurde vor der Schlussabstimmung eingesetzt.
andres egger meint
@Herr Berger: Die mir bislang unbekannte, ursprüngliche französische Fassung gibt Ihnen schon teilweise Recht.
Allerdings bleibt es meiner Meinung nach dabei, dass die imperativ geforderte „Rücksicht“ eben doch eine klare Verbindlichkeit mit sich bringt.
Oder könnte sich die Vereinigte Bundesversammlung rücksichtslos über diese Vertretungsforderung hinwegsetzen ohne die Verfassung zu verletzen?
Henry Berger meint
„Rücksicht“ gibt juristisch gesehen eben nicht viel her und lässt insbesondere enorm viel Interpretationsspielraum. 30 Jahre ein Tessiner Bundesrat und dann mal 8 Jahre keiner, aber dann wieder einen – ist doch rücksichtsvoll oder nicht? Im ZGB steht, dass Mieter aufeinander Rücksicht nehmen müssen. Wieso gibt es dann aber detaillierte Hausordnungen? Genau – weil dieses „Rücksicht“ eben alles andere als klar ist…