Bei mir ist gestern die Stimmung in Sachen Bundesrat gekippt.
Das Problem: Ab jetzt wird’s politisch, wenn der Bundesrat weiterhin Märchen – Interpretationen des aktuellen Stands der Dinge – statt Fakten liefert.
Weshalb ich zu meiner alten Position zurückrudern muss: Frau Sommaruga hat grosse Schwächen, die, sobald es wieder politisch wird, sofort durchschlagen.
Mir geht ihr Kopfstreichelton auf den Wecker.
Ich bin kein Kind, das man loben oder tadeln muss. Ich will wissen was Sache ist.
Gekippt ist meine Stimmung, als Simonetta voll der Gnaden die Sache mit den 30 Franken weniger TV-Gebühren verkündete.
Was bitte soll denn das?
Muss ich jetzt auf den Balkon und dankbar in die Hände klatschen?
Ich habe danach in die Pressekonferenz von Andrew Cuomo, dem Gouverneur von New York, reingeschaut.
Gleiches Thema, übereinstimmendes Problem, dieselbe Ungewissheit.
Doch statt wie der Bundesrat gestern (auch die anderen beiden), im wenig Präzisen rumzustochern, war das bei Cuomo eine präzise Ansage mit einem klaren Ziel: Die Ansteckungsrate pro Infiziertem, die Reproduktionsrate, muss deutlich unter 1 gesenkt werden.
Erst dann kann es zu Lockerungen kommen.
Die Reproduktionsrate ist die neue Corona-Währung!
New York lag vor zwei Wochen bei 2, d.h., jeder Infizierte hat zwei weitere angesteckt – eine Ausbreitung der Krankheit mit einem Brandbeschleuniger.
Dann ging die Rate runter auf 1.2 und aktuell liegt New York bei 0.9.
Wie man gestern auf SRF beiläufig erfuhr, liegt die Schweiz aktuell bei einem Wert von 1, d.h., die Ansteckungszahlen laufen seitwärts, was zwar besser ist, als ein steiler Anstieg, aber an der Gesamtsituation nicht viel ändert.
Deutschland, welche jetzt das Augenmerk auf die Reproduktionsrate legt (siehe die Erklärungen von Frau Merkel), hat seit heute den Wert von 0.7 erreicht.
Damit sich niemand irgendwelchen Illusionen hingibt, im Mai sei alles wieder so wie früher, also so ungefähr wie bis Februar: Wuhan lockerte die strikten Massnahmen erst bei einem Wert von 0.3.
Was deutlich macht, dass wir weitere Monate, wenn nicht Jahre, mit dem Coronavirus leben müssen.
So, wie es jetzt ist, ist die neue Normalität.
Je schneller wir das akzeptieren, desto besser können wir unsere Lebensgewohnheiten der neuen Zeit entsprechend anpassen.
Wir können das.
Wir sind Menschen.
Was daraus als logischer Schluss folgt: Nicht die Neuansteckungen, die Todesziffern und die Zahl der Geheilten geben Aufschluss über den aktuellen Stand der Corona-Krise, sondern allein die Reproduktionsrate.
Und die wird vom BAG offensichtlich nicht erfasst, respektive kommuniziert.
Ich meine, wir leben im Jahr 2020. Da müsste doch eine Website her, auf der die Reproduktionsrate täglich nachgeführt wird.
Mit dieser Zahl – wäre so verständlich wie die Temperaturangabe beim täglichen Wetterbericht – könnten wir mündige Bürger- und -innen eigenverantwortlich entscheiden, wie wir uns in der Öffentlichkeit verhalten werden.
Zum Beispiel auch ohne Anordnung des Bundesrates im Bus, Tram und Bahn Gesichtsmaske tragen. (Die Maskendiskussion hat sich sowieso erledigt.)
Wie man den Menschen (der Bundesrat redet immer von „Leuten“) den Sinn der einschneidenden Massnahmen verständlich macht, demonstrierte ebenfalls gestern Bundeskanzlerin Angela Merkel.
Der Anstieg Reproduktionsrate von bescheidenen 1.1 auf 1.2 , erklärte sie, bedeute für Deutschland, dass das Gesundheitssystem statt im Oktober schon im Juli an seine Kapazitätsgrenze stösst.
Niemand will das, ist doch klar.
Der Bundesrat und das BAG müssen ihre Kommunikationsarbeit gründlich überdenken.
Sonst wird das ganze zu einem Politikum und das ist das Letzte, was wir brauchen.
New Yorks Cuomo sagte gestern, alle seine Massnahmen hätten nichts mit Politik zu tun. Sie würden bestimmt von wissenschaftlichen Analysen gepaart mit einer grossen Portion Unsicherheit.
Er sagte auch, dass er den 12 Millionen New Yorkern nichts befehlen könne. Wenn diese den Empfehlungen (!) nicht folgen, dann könne er nichts machen.
Nur mit der Einsicht aller, finde man aus der Krise.
Gaby Koller meint
das ist jetzt aber doch unfair dem Bundesrat gegenüber…
Versetzen wir uns doch in dessen Lage nach mehr als vierwöchigem Dauereinsatz!
Ich finde, wir sollten ihm genügend Vertrauen entgegen bringen, dass er auf Berater und Experten hört, aber auch die verschiedenen Interessengruppen im Auge behält, was er ja auch schon bewiesen hat!!
… und das braucht doch Zeit, vor allem wenn man dann noch vor dem Termin vom 27. April von gewissen Parteivertretern zur Beschleunigung gedrängt wird, ungeachtet dessen, dass der Virus parteiübergreifend arbeitet und sich nicht drängen lässt…
Der Bundesrat braucht auch moralische Unterstützung, nicht unkritische zwar, aber stärkende…
Christoph Meury meint
Der Ruf nach der täglichen (und bitteschön präzisen) Corona-Wasserstandsmeldung und das Klammern an sauber eruierbare Raten & Parameter, ist eher ein Abbild des gesellschaftlichen Zustandes, als eine klare Handlungsstrategie. Vermutlich muss man den Zustand der Ungewissheit und der unscharfen hoheitlichen Vorgaben & Massnahmen noch ein paar Wochen aushalten. Wer jetzt so tut, als sei die Ausgangslage glasklar und der Ausstieg aus der Krise terminierbar und eine reine Frage der Logistik, ist ein Scharlatan. Keiner weiss Bescheid, das ist faktisch der Zustand indem wir uns befinden. Für den Kommunikationsspezialisten und Prozessmoderator: Wir stecken mitten in der Kumulationsphase von Zielkonflikten. Dabei stehen mittlerweile nicht nur Aussagen von Epidemiologen & Virologen im Vordergrund, sondern jetzt kommen auch die Sozialwissenschafter, Psychologen, Betriebswirtschafter & Ökonomen, PolitikerInnen, etc. zu Worte. Sie alle haben unterschiedliche Interessenslagen und liefern Informationen zur Erhellung der komplexen und instabilen Lage in der wir uns befinden. Diese unterschiedlichen Perspektiven gilt es auszuloten und sich an Lösungen heranzutasten. Der Ruf nach der «Starken Hand« und der klaren Ansage kaschiert lediglich die eigene Unsicherheit, ist aber wenig zielführend, ja führt letztlich in die Irre.
Henry Berger meint
..auch bei mir kippt langsam die Stimmung. Insbesondere hätte ich von Frau Sommaruga mal eine Ansprache erwartet – nun, mittlerweile ist es dafür m.E. schon zu spät. Dass die Kommunikation Regierung/Bürger immer nur im Rahmen von Pressekonferenzen stattfindet, erachte ich nicht so als optimal.
M.W. redet vor allem Herr BR Berset von „Leuten“, es sollte doch möglich sein, dass ihm irgendwer in seinem Umfeld freundlich darauf hinweist, dass dieser Begriff nicht 100% dem Wort „Menschen“ entspricht. Er kann ja nichts dafür, dass seine Muttersprache nicht Deutsch ist.
Am übernächsten Montag kann man sich jetzt also ein Tattoo stechen lassen, da der Bundesrat der Meinung ist, dass der Kauf eine Buches oder der Wechsel ein Uhrenbatterie eine ungleich höhere Gefahr für die Gesundheit darstellt…..
Dass die Öffnung von Bibliotheken und Museen erst ab 8. Juni vorgesehen ist, kann ich nicht nachvollziehen. In beiden Institutionen ist m.E. der Publikumsverkehr besser steuerbar als in Verkaufsstellen